Netvel: "Im Netz" - 40. Kapitel































.

Den Sonntag verbrachte ich damit, die Bildergeschichte "Beloved dustbin" herzustellen, getreu dem Motto:
"Wenn du eine Aufgabe nicht lösen kannst, mache ein Kunstwerk daraus."
Nach acht Stunden war "Beloved dustbin" fertig und online. Das Comic handelt von der Liebe zu einer Sondermülltonne.
Anfang der Woche simste Tyra:

RAFA MACHT MICH FÜR DEINEN SOFA-EINTRAG VERANTWORTLICH.

Ich simste:

COOL, is ja abgefahren.

Tyra simste:

Abgefahren??? Der ist STINKSAUER AUF MICH, und ich konnte ihn auch nicht vom Gegenteil überzeugen. DAS war auch der Grund für das Herunterfahren! Hat mich geärgert.

Ich simste:

Soll ich ihm 1 E-Mail schreiben? Dann glaubt ers vielleicht. Ich hab bei ihm nix zu verlieren.

Tyra simste:

Nee, nee. Es geht ja auch nicht um den Eintrag, DEN FIND ICH JA COOL!;) Rafas gnadenloses Mißtrauen mir gegenüber ärgert mich. Und wenn mans so sieht, hab ich an ihm NIX ZU GEWINNEN!;)

In dem SMS-Dialog mit Tyra ging es um meine Einträge in Rafas "Nachtkuss"-Gästebuch, die auf den Zustand seines berüchtigten Sofas anspielten. Rafa hatte daraufhin das "Nachtkuss"-Gästebuch offline gestellt. Daß er das Sofa inzwischen entsorgt hat, wage ich zu bezweifeln.
Rafa zahlt nach und nach die Schulden ab, die er bei Tyra hat. Sie kann das Geld dringend brauchen. Insgesamt schuldet Rafa ihr 450 Euro, die sie noch für ihre Tätigkeit als Sängerin bei W.E bekommt.
Lucy telefonierte mit Tyra. Sie hatte mitbekommen, daß Tyra Kontakt zu Berenice hat, und sie befürchtete, Tyra könnte ihr abspenstig werden, weil sie Berenice gegenüber Sticheleien gegen Tyra geäußert hatte und befürchtete, Berenice könnte dies an Tyra weitertragen. Da bevorzugte Lucy die Flucht nach vorn und erzählte Tyra selbst davon. Als Tyra versicherte, ihr nicht böse zu sein, beichtete ihr Lucy, daß sie Mitte März in HD. mit Rafa und Darienne auf der Bühne gestanden hat, trotz ihres Ausstiegs bei W.E. Rafa habe sie darum gebeten, er habe sich wohl eine Art Revival gewünscht. Dolf war auf dieser Tour nicht dabei, auch in Barcelona nicht, wo es anschließend hinging. Statt seiner kam ein Ersatzmann mit, Donovan. Tyra rief Dolf an und erkundigte sich nach den Hintergründen. Dolf berichtete, er mache sich beruflich selbständig und habe es vorgezogen, sich um seine Arbeit zu kümmern. Die Band W.E gebe es vielleicht noch ein, zwei Jahre, dann sei Schluß damit. Er werde Mitglied der Band bleiben, doch wolle er den Blick nach vorne richten und in eine tragfähige Zukunft investieren. Rafa habe Lucy wahrscheinlich nur deshalb um ihre Mitarbeit gebeten, um seinem Publikum wenigstens ein bekanntes Gesicht präsentieren zu können. Darienne sei ja noch nicht lange dabei und außerdem ziemlich unbeliebt.
Auf der W.E-Website befindet sich ein Tourtagebuch über die Tour nach HD. und Barcelona. Von der Stadt Barcelona hat die Band nicht viel gesehen - es gab keine Besichtigung der märchenhaften Gaudi-Bauwerke, es gab kein Shopping in den Antiquitätenläden, nur die gewohnte Tour-Routine zwischen Hotel und Veranstaltungshalle. Sie waren da und doch nicht da.
Im Tourtagebuch geht es unter anderem um ein Ölfaß, auf das Rafa während seines Stücks "Arbeit adelt!" einschlug und das schon nach drei Schlägen zusammenbrach. Es geht um Rückenschmerzen, die Rafa sich beim Kofferschleppen zuzog. Rafa nahm daraufhin ein heißes Bad und hörte Hörspiele zum Einschlafen. Weil davon nichts besser wurde, zog Rafa in Erwägung, die Tour abzubrechen, setzte sie dann aber doch fort.
Tron rief mich an und erkundigte sich nach Konzerten von Rafas Sideproject H.F. Er meinte, Rafas Musik sei im Laufe der Jahre einförmig geworden, die Faszination sei verlorengegangen. Und seit Berenice nicht mehr bei W.E sei, habe er, Tron, kaum noch Gründe, eines von Rafas Konzerten zu besuchen.
Daß Darienne beim Publikum nicht sonderlich beliebt sei, liege wohl auch daran, daß Rafa für sie noch keinen "eigenen" Song geschrieben habe. Rafa behandele alle Sängerinnen stiefmütterlich und schreibe nur selten "eigene" Songs für sie. Ein Grund dafür sei wohl seine Furcht, die Sängerinnen könnten ihn überstrahlen.
Im Online-Gästebuch von H.F. schrieb "Codo" über den Auftritt im "Lost Sounds":

Halli hallo,
ich muss sagen, der Auftritt am Samstag im "Lost Sounds" war ja echt mal genial, auch wenn ein paar Kleinigkeiten schiefgegangen sind, wie dass Darienne nicht aus der Röhre gekommen ist oder das Mic mal kurz ausgefallen ist, aber so was übersieht man einfach.
Ich fands klasse, sind zwar nicht viele abgegangen.
Hätten aber ruhig noch ein paar Liedchen mehr sein können - ich werde H.F. auf jeden Fall weiter verfolgen.
Gibs eigentlich schon ne Platte zu kaufn??
Viel Glück noch weiterhin
greeeZ Codo

"Nero" schrieb:

ich fand den auftritt auch gelungen. live passieren halt unvorhersehbare dinge - hauptsache ruhe bewahren und sich nicht aus dem konzept bringen lassen.
MACHT WEITER SO ... am besten mit nen paar mehr songs
Es grüßt Euch
der Nero

Ich schrieb als "Mela":

vor allem mit paar mehr eigenen

"Io" schrieb:

Nischt ungeduldig sein, wenns mehr eigene Songs gibt, dann gibts auch bald eine Platte zu kaufen.

Ich schrieb als "Sabrina":

Sagt nichts gegen HONEY *schwärm* Der schafft eine CD mit eigenen Songs.

Rafa schien die Ironie nicht zu bemerken, er ließ meine Texte stehen. Vermutlich hat er mich hinter den Pseudonymen nicht erkannt.
Mit Berenice unterhielt ich mich in E-Mails über das Konzert von H.F. im "Lost Sounds". Unter anderem erzählte ich von Sylvain, der nach dem Konzert bei Rafa im Backstage war. In dem Gespräch von Sylvain und Rafa ging es um das verspätete Erscheinen des neuen Albums von W.E. Rafa soll tatsächlich behauptet haben, die Fußballweltmeisterschaft sei ihm unerwartet dazwischengekommen, so daß das Album erst im September erscheinen könne. Hierzu schrieb Berenice:

Merkt er es noch??? Vor allem, da Rafa ja so auf Fußball steht ;)

Berenice hatte in einer E-Mail angedeutet, Rafa weine sich bei ihr aus, zumindest in den Träumen, die sie von ihm habe. Ich erkundigte mich, was Rafa denn beklage. Berenice schrieb:

Er sagte mir, anfangs sei er schon ein wenig in Darienne verliebt gewesen, das sei jetzt aber verschwunden, und es sei nur eine Leere zurückgeblieben.

Berenice gefallen die Comics von Sulo, der Sondermülltonne, die ich nach und nach online stelle. Sie ermunterte mich:

Weiter so, auch wenn es die Person, die es lesen und begreifen sollte, nie verstehen wird ...

Berenice erinnerte sich an einen schönen Moment in ihrer Beziehung mit Rafa. Vor sieben Jahren schenkte Rafa ihr einen Petticoat zu einer bestandenen Prüfung. Berenice verwendete den Petticoat als Bühnengarderobe. Sie hat ihn nicht zusammen mit den anderen Bühnenkostümen versteigert, sondern behalten.
In der Kantine in der Reha-Klinik unterhielten wir uns über die Katastrophe von Tschernobyl, die sich demnächst zum zwanzigsten Mal jährt. Ein deutschrussischer Kollege erzählte von den Menschen, die kurz nach dem Reaktorunfall vom Staat zum Aufräumen ins Katastrophengebiet geschickt wurden. Wer sich weigerte, kam ins Gefängnis. Ein Kollege, der damals im Katastrophengebiet arbeiten mußte, erkrankte einige Jahre später an einem bösartigen Tumor. Als er von seiner hoffnungslosen Prognose erfuhr, weinte er bitterlich. Ein anderer Kollege weigerte sich, in dem verstrahlten Gebiet zu arbeiten. Er kam ins Gefängnis und einige Zeit später wieder heraus; er lebt und ist gesund.
In der Region um Tschernobyl sollen seit der Reaktorkatastrophe Äpfel auf den Bäumen wachsen, die so groß sind wie Wassermelonen. Man versucht, zu verhindern, daß diese Äpfel gegessen werden, doch das gelingt nicht.
Das Gespräch kam auch auf Übergewicht bei Menschen. In den Krankenhäusern und Reha-Kliniken gibt es immer mehr Patienten mit Übergewicht, die eine gewöhnliche Personenwaage überfordern - und nicht nur die Waage. Als eine übergewichtige Patientin in unserer Reha-Klinik geröntgt werden sollte, brachen die Räder der fahrbaren Trage ab, erst die Vorder- und dann die Hinterräder. Der schwerste Mensch der Welt soll in den USA leben - mehr als eine halbe Tonne schwer. Kürzlich wurde mit einem Kran ein schwergewichtiger Mittdreißiger aus einem Haus in H. gewuchtet. Eine Lastenwaage zeigte 420 kg an, als man ihn wog. Eine Schlaganfall-Patientin kam in unserer Reha-Klinik trotz ihrer 200 kg wieder auf die Beine, und das war ein Glück, denn ein Rollstuhl, der unter ihr nicht zusammengebrochen wäre, ist dort schwer aufzutreiben. Die Krankenhäuser und Reha-Kliniken sind noch nicht auf dieses Patienten-Klientel eingestellt.
Ende März war ich bei Tyra zu Besuch. Auf dem Bildschirm ihres Rechners war als Hintergrund ein Foto von Tyra und Lucy zu sehen, wie die beiden nebeneinander auf einer Bühne saßen. Tyra erzählte, daß dieses Bild Teil einer Fotostrecke ist, die im September des vergangenen Jahres in KR. entstanden ist. Die Session diente eigentlich dazu, Bandfotos für W.E zu machen, wurde aber von Tyra und Lucy auch genutzt, um Fotos für ihr eigenes musikalisches Projekt zu machen. Tyra zeigte mir Fotos, wie Rafa sie für W.E haben wollte; sie wirkten steif und posiert. Auf einem Bild konnte man durch einen Verwacklungseffekt noch sehen, wie Rafa Tyra und Lucy zurechtgerückt hatte. Er habe die beiden unsanft in Positur geschoben, erzählte Tyra. Auf einem weiteren Bild sah man Rafa mit gen Himmel erhobenem Kinn, eine Lieblings-Pose von ihm. Tyra zeigte auch viele Bilder aus ihrer anschließenden Session mit Lucy. Auf einem Bild guckten die beiden etwas entgeistert.
"Da ist Rafa gerade 'reingekommen", erzählte Tyra. "Der fand das wohl nicht so toll, daß wir da was für uns gemacht haben."
Es gab auch Bilder, auf denen Tyra und Lucy statt der von Rafa verordneten Steckfrisur Pferdeschwänze mit Löckchen tragen.
"An dem Tag hatten wir beide Löckchen", erzählte Tyra. "Und wir wollten, daß die zu sehen waren und nicht in der Steckfrisur verschwanden. Rafa hat uns voll angemacht und gesagt, das paßt nicht zum Image, sowas will er nie wieder sehen."
"Nicht zum Image?" fragte ich. "Der weiß wohl nicht, daß der Pferdeschwanz in den von ihm vergötterten und kopierten fünfziger Jahren absolut hip war und geradezu typisch für den modischen Stil des Jahrzehnts."
Auf einem Bild sieht man Tyra auf einer der Bierkisten sitzen, die Rafa für den Aufbau seiner Bühnendekoration verwendet.
"Wegen dem Bild konnte ich mir von Rafa voll was anhören", erzählte Tyra. "'Da sieht man, was du die ganze Zeit machst - Herumsitzen!'"
"Was fällt dem eigentlich ein?" empörte ich mich. "Das müßte der doch wirklich besser wissen. Der beschimpft dich doch nur, um seine Aggressionen auf dir abzuladen. Der benutzt dich als Fußabtreter für emotionalen Müll."
"Er hat mich auch voll angeschrien, als ich im 'Zone' eine Saftflasche umgekippt habe. Sowas kann jedem mal passieren, er hat sich aber voll darüber aufgeregt, als hätte ich es mit Absicht gemacht. Er hat mir auch nicht geholfen beim Aufwischen, er hat nur gesagt:
'Daß du mir das vernünftig wegwischst!'
Dabei war ich an dem Tag schon voll fertig."
"Ja, das war ja, als er dich auf der Bühne so beleidigt hat."
"Die Flasche ist mir von dem Tisch gefallen, wo du später auch gesessen hast."
"Ach, da hinten in der Lounge, wo Duncan seinen Geburtstag gefeiert hat?"
"Ja, da", nickte Tyra. "Keiner hat mir geholfen, das wegzuwischen. Lucy hat mir einen Wischlappen gebracht, aber aufwischen mußte ich alles selber."
Tyra erzählte von ihren neuesten Begegnungen mit Rafa. Am Montag nach seinem Konzert im "Lost Sounds" erinnerte Tyra ihn per SMS an die Schulden, die er noch bei ihr hatte. Er rief sie an und fragte grußlos und kurz angebunden:
"Du willst Geld, oder was?"
Tyra bestätigte, daß sie gern das Geld hätte, das Rafa ihr schuldet.
"Ich dachte, Geld ist dir nicht wichtig", wollte Rafa sich aus seinen Verpflichtungen herauswinden.
"An sich ist mir Geld auch nicht wichtig", erklärte Tyra. "Aber ich brauche es, um zu überleben, und daß ich überlebe, ist mir wichtig."
Rafa wollte sich sogleich mit Tyra treffen. Sie bat ihn, dies auf später zu verschieben, da sie gleich zu ihrer Abschlußprüfung müsse. Sie werde sich nachher bei ihm melden.
"Jetzt habe ich überhaupt keinen Kopf für dich, und du nervst mich auch gerade ein bißchen", teilte sie ihm mit.
Hölzern wünschte Rafa ihr Glück bei der Prüfung und setzte beleidigt hinzu:
"Bis später oder bis irgendwann oder bis nie."
Tyra bestand ihre Prüfung mit einer Zwei und kam erleichtert nach Hause. Tyra hat nun eine nahezu abgeschlossene Erzieher-Ausbildung und das Fachabitur.
Gegen zehn Uhr abends erkundigte Tyra sich bei Rafa per SMS, ob er Damenbesuch habe. Er rief Tyra an und schnappte ohne Gruß:
"Hab' keinen Damenbesuch."
Er lud Tyra zu sich ein und empfing sie oben in seinem Schlafzimmer. Rafas Mutter war verreist. Da sich in Rafas Schlafzimmer nur ein Stuhl befindet, auf dem er selber saß, setzte Tyra sich auf sein Bett. Rafa war schweigsam. Tyra fragte ihn:
"Und, was ist los?"
"Wieso 'Was ist los'?"
"Irgendwas ist doch, ich merke das doch."
"Ich habe Musik gemacht."
"Spiel' mal vor."
"Ist aber noch nicht fertig."
"Ich will es trotzdem hören."
Rafa spielte ihr das neue Stück vor, und sie sagte:
"Es ist schön und schwermütig. Es gefällt mir."
Rafa spielte als Nächstes ein selbstgemachtes Hörspiel vor. Schließlich setzte er sich neben Tyra, legte seine Arme um sie, lehnte seinen Kopf an ihre Schulter und an ihre Wange und seufzte ein ums andere Mal.
"Was ist los, was hast du?" fragte Tyra. "Nervt dich deine Darienne? Willst du mal wieder Abwechslung haben? Brauchst du wieder eine Zweitfrau?"
Rafa antwortete nicht, und Tyra sagte schließlich:
"Weil du nicht antwortest, gehe ich davon aus, daß es stimmt, was ich sage. So können wir uns gerne weiter unterhalten."
"Spinnst du, oder was?" fauchte Rafa.
Er begann mit dem Vorspiel. Tyra schob ihn weg und sagte:
"Nein. Es ist besser, wenn Schluß ist."
"Du magst mich nicht", warf Rafa ihr vor.
"Doch."
"Das glaube ich nicht."
"Gerade weil ich dich mag, möchte ich mit dir nichts mehr haben", erklärte Tyra. "Gerade weil ich unsere Freundschaft erhalten will."
"Aber ich hab' dich doch so lieb", jammerte Rafa.
"Du willst nur mit mir poppen", entgegnete Tyra.
"Nein", beteuerte Rafa. "Du bist einer der wichtigsten Menschen in meinem Leben."
"Du verwechselst wieder einmal Liebe mit Sex."
"Aber ich hab' dich doch so lieb."
"Und wenn ich jetzt darauf eingehe, dann verletzt du mich nachher wieder. Dann muß ich vier Wochen auf dich verzichten. Mir geht's schlecht, und dir geht's gut, weil du ja deine Zweitfrau hast."
"Ich mag eben zwei Frauen."
"Das geht überhaupt nicht", sagte Tyra bestimmt. "Das geht biologisch nicht, das geht psychisch nicht. Das geht überhaupt nicht, daß man zwei Frauen auf einmal mag."
"Doch."
Tyra schlug ihm vor, er könne mit Darienne eine offene Zweierbeziehung führen, weil ihm eine einzige Freundin sowieso nie ausreiche.
"It's not my style", erwiderte Rafa. "Ich mach' keine halben Sachen."
Er macht lieber doppelte und hintergeht seine Freundinnen, anstatt zu seiner Promiskuität zu stehen.
"Mir ist wichtig, daß wir gute Freunde bleiben", betonte Tyra, "denn schließlich besteht ja eine Freundschaft zwischen uns."
"Ich ertrage das nicht, mit einer Frau zusammen zu sein, die mir gefällt, ohne sie anzufassen."
"Das ist es ja, du verwechselst wieder einmal Liebe mit Sex."
"Ich bin nun einmal so."
"Und ich bin nicht so", betonte Tyra. "Ich bin in der Lage, mich zurückzuhalten und mit einem Mann nur befreundet zu sein. Du brauchst dir da keine Sorgen zu machen."
"Dann muß ich dich jetzt wohl auch hassen."
"Nein, wir können doch einfach Freunde bleiben, ohne miteinander Sex zu haben."
"Nein, bei mir gibt's nur Liebe oder Haß", erklärte Rafa. "Nichts dazwischen. Und zur Liebe gehört für mich eben auch, daß ich mit den Frauen auch schlafe. Und ich kann mich nicht zwischen dir und Darienne entscheiden."
"Außerdem habe ich jetzt einen neuen Freund."
"Wieso erzählst du mir das erst jetzt?" fragte Rafa ungehalten.
"Hätte das denn was geändert?" gab Tyra zurück.
"Nein."
"Eben", sah sich Tyra bestätigt. "Mein Freund ist ein quietschbunter Normalo. Er ist Erzieher und trägt soziale Verantwortung. Und er ist mir wichtig, und ich bin ihm treu."
"Dann müssen wir das Tyra-und-Rafa-Buch wohl endgültig zuklappen", klagte Rafa.
Tyra blickte auf die Uhr ihres Handies und sagte:
"Du hast jetzt genau drei Jahre und vierundzwanzig Tage Zeit gehabt, um dir eine Lösung zu überlegen, und die Zeit ist jetzt abgelaufen."
Sie stand auf und ging.
Tags darauf begegnete Tyra Rafa auf der Straße. Er war mit dem roten Motorroller unterwegs, den er Berenice abgekauft hat. Rafa winkte Tyra freundlich zu. Darienne auf dem Soziussitz blickte starr und unbeteiligt.
"Wenn ich gestern gemacht hätte, was er von mir wollte, würde ich jetzt leiden", dachte Tyra, als sie das sah. "Wie gut, daß ich nicht mitgemacht habe."
Über Darienne wußte Tyra zu berichten, daß diese vorerst keine Ausbildung machen will. Ihr Argument: bei W.E und H.F. verdiene sie so viel, wie sie in der Lehre nicht verdienen könne. Frühestens nächstes Jahr wolle sie aber eine Ausbildung beginnen.
"Sie steht Rafa immer zur Verfügung", kommentierte Tyra, "das ist es, was er will."
Bei dem Konzert in HD. sind Darienne und Lucy in den violetten Kleidern aufgetreten, die Tyra und Lucy nach Berenices Ausstieg bei W.E genäht haben. Darienne soll geschimpft haben, als sie Tyras Kleid anziehen sollte:
"Was ist das für ein Kleid? Überall muß man fünf Meter 'rausnehmen."
"Du bist eben eindeutig als Frau zu erkennen", sagte ich zu Tyra. "Bei Darienne weiß man nicht, ob es sich um eine Frau handelt oder um eine Häkelnadel."
Tyra erinnerte sich, wie sie im vergangenen Herbst Rafa und Darienne auf der Kirmes in SHG. gesehen hat. Rafa ging vorneweg und unterhielt den ganzen Trupp, er marschierte mit mehreren Leuten. Im Gefolge ging Darienne neben Anwar her, und die beiden gaben sich Mühe, sich zu amüsieren. Tyra beobachtete, daß Rafa sich nicht um Darienne kümmerte, sondern sie nur im Gefolge mitlaufen ließ. Dennoch wünschte Tyra sich damals, mit Darienne tauschen zu können.
Tyra war mit ihrem Vater auf der Kirmes. Als er sah, daß Tyra weinte, richtete er sein Schießbuden-Gewehr auf Rafa. Tyras Vater trank an jenem Abend viel und nahm keine Rücksicht darauf, daß Tyra nach Hause wollte. Rafa machte sich einen Spaß daraus, sich im Gedränge genußvoll an Tyra entlangzuschieben, wie er es bei mir schon oft getan hat. Tyra kennt dieses Verhalten auch schon länger; Rafa schiebt sich anscheinend gerne an Frauen entlang.
Vor Jahren hat Tyra zugesehen, wie Rafa mit Berenice in einer Geisterbahn verschwand. Auch damals litt sie. Rafa zeigte sich mit Tessa und Berenice, er zeigt sich mit Darienne, doch nie zeigt er sich mit Tyra. Sie war und ist die Frau im Schatten.
Tyra und ich gingen einkaufen und kamen an dem Haus von Rafas Familie vorbei, ein etwa hundert Jahre altes Haus aus dunklem Backstein, ähnlich gebaut wie einige Nachbarhäuser. Tyra zeigte auf den Motorroller in der Einfahrt und meinte, wenn der dort stehe, könne man davon ausgehen, daß Rafa zu Hause sei. Rafa sei fast immer mit dem Motorroller unterwegs.
Tyra erzählte, was sich im Obergeschoß des Hauses befindet. Vorne gibt es ein Dachzimmer und hinten eine Wohnung mit Küche und Bad. Das Dachzimmer wird von Rafas Mutter als Lagerraum verwendet. Die Wohnung steht leer. Rafa konnte sich bisher nicht entschließen, dort einzuziehen. Lediglich das Bad wird von Rafa zum Duschen genutzt.
Tyra und ich kamen an dem Kino von SHG. vorbei und betrachteten das Werbeplakat für den Film "Zum Ausziehen verführt". Der Hauptakteur ist in Rafas Alter. Die Frau, die seine Eltern auf ihn ansetzen, wird von Sarah Jessica Parker gespielt, die Tyra ähnlich sieht. Wir fühlten uns sehr an Rafas Lebenssituation erinnert.
In einem Einkaufszentrum schräg gegenüber von Rafas Wohnhaus gibt es einen Schreibwarenhandel, der auch die drei größten Szene-Magazine führt. Die kaufte ich und las die Interviews mit Darius über die Band Das P. Die Journalisten loben die Band sehr und werfen auf Rafa einen kritischen Blick. Tyra erzählte, daß am heutigen Abend die Release-Party für den neuen Tonträger von Das P. im "Verlies" stattfinden werde. Sie überlege, ob Rafa wohl auch dorthin kommen werde.
"Ganz bestimmt nicht", war ich sicher. "Da geht der nicht hin."
"Der liest aber alles in der Presse über die ganz aufmerksam", wußte Tyra. "Der hat alle Interviews mit denen."
Tyra und ich bummelten über die Kirmes in SHG. Tyra erinnerte sich an Rafas Versuche, ihr die Programmiersprache BASIC beizubringen. Tyra bekam im Alter von elf Jahren einen C64 geschenkt. Vor einiger Zeit stellte sie den C64 auf den Dachboden, weil er sie an Rafa erinnerte und sie nun mit Rafa abschließen wollte. Tyra gefällt Rafas herrisches Auftreten nicht. Er habe den Oberlehrer gespielt und immer wieder von Tyra verlangt, BASIC zu üben.
"Darienne macht das so gut", meinte Tyra. "Die hängt sich da voll 'rein, nur um BASIC zu können und dann sagen zu können:
'Ich kann das.'"
Ich erzählte, daß Berenice auch als Kind einen C64 bekommen hat. Sie stellte ihn auf den Dachboden und holte ihn wieder herunter, als sie Rafa kennenlernte.
Nachts war ich auf der Release-Party für das neue Album von Das P., die im "Verlies" stattfand. Tyra und Charlize gingen, kurz nachdem ich erschien. Charlize mußte am nächsten Morgen arbeiten, Tyra mußte noch in der heutigen Nacht im "Keller" arbeiten. Darius berichtete, in einer Woche werde die neue Internetpräsenz von Das P. online gehen, dann werde man vielleicht auch schon die nächsten Konzerttermine wissen. Darius hatte zwei mit Spiritus gefüllte Glasgefäße neben das DJ-Pult gestellt, in denen Herzen lagen. Ich fragte ihn, ob er die vom Schlachter hatte. Er bejahte und fragte:
"Willst du eins haben?"
Das wollte ich lieber nicht.
Als ich Tricky erzählte, daß der ehemalige "Nachtlicht"-Türsteher Lennart Brehler sich als Geschäftsführer des "Verlies" bezeichnet, bestätigte Tricky dies und meinte, Lennart sei ein "ganz Netter". Ich entgegnete, daß ich andere Seiten von ihm kenne. Lennart sei immerhin ein vorbestrafter Frauenhasser. Tricky fragte laut und mit der Aggressivität eines Betrunkenen:
"Liebst du Rafa?"
"Ja."
"Liebst du Rafa?"
"Ja."
"Wie kannst du Rafa lieben? Der schlägt Frauen!"
"Daß es sich dabei um Straftaten handelt, ist selbstverständlich", betonte ich. "Und dafür, daß ich Rafa liebe, kann ich nichts. Ich habe ihn mir nicht ausgesucht. Für Rafas Verhalten gibt es keine Entschuldigung. Es gibt keine Entschuldigung dafür, daß ein Mann eine Frau schlägt."
"Sagst du!" rief Tricky. "Ja, Lennart hat auch mal eine Frau geschlagen, deshalb ist er vorbestraft. Ich bin auch vorbestraft, weil ich mal eine Frau geschlagen habe."
"Aha", dachte ich, "und das sagt ausgerechnet Tricky, der immer betont, Frauen dürfe man nicht schlagen, und wenn Rafa mich schlage, solle ich ihm bescheidsagen, und er werde Rafa vermöbeln. Ausgerechnet Tricky hat selbst schon eine Frau geschlagen."
Tricky rechtfertigte sich:
"Das war eine aus meiner Schule, die hat jeden geschlagen, und als ich dran war, habe ich mich gewehrt. Mein Fehler war nur, daß ich nicht aufgehört habe."
Ich erkundigte mich nach den dokumentierten Verletzungen, die Tricky ihr zugefügt hat.
"Gehirnerschütterung", gab Tricky Auskunft.
Mehrere Leute sprachen mich an und erzählten, sie hätten mich am vergangenen Samstag im "Lost Sounds" gesehen. Einer von ihnen betonte, ich würde so schön tanzen, und für mich müßte es hier eine zweimal so große Tanzfläche geben.
Einer der Herren stellte sich vor als Matti. Er kokettierte mit seinem Alter und erzählte, man halte ihn immer für achtzehn, er sei aber schon sechsundzwanzig. Sein Aussehen fand ich tatsächlich jungenhaft, mit kahlgeschorenem Kopf und sehr legerer Kleidung. Matti kuschelte sich an mich und kraulte mich im Genick, was unlängst schon Auran und W.O.L.F. getan haben, und ebenso wie sie erkundigte er sich, ob mir das gefalle. Ich nickte wohl, vergaß aber nicht, zu vermitteln, daß meine Gefühle sich woanders befinden; freilich entziehe sich dies meiner willkürlichen Entscheidung.
"Du bist eine erwachsene Frau", wandte Matti ein, "du kannst selbst entscheiden, was du tust."
"Das stimmt", bestätigte ich. "Ich kann entscheiden, was ich tue. Aber ich kann nicht entscheiden, wen ich liebe."
"Trotzdem mag ich dich", sagte Matti gnädig, "junge Frau. Wenn du Rafa irgendwann nicht mehr willst, kannst du mir bescheidsagen."
Matti erzählte, daß er in Scheidung lebt. Seine Frau habe psychische Probleme, und die Beziehung habe nicht halten können. Nach der Trennung sei er obdachlos geworden. Seit einigen Wochen wohne er bei Alkoholikern, die er noch nicht viel länger kennt. Nur diese Trinker seien bereit gewesen, ihn zu beherbergen. Matti ist ebenfalls suchtkrank - die wichtigste Voraussetzung, um obdachlos zu werden. Fast alle Menschen, die in die Obdachlosigkeit geraten, sind abhängig von Alkohol oder Drogen. Matti schilderte seine Drogenerfahrungen. Er sei vom sechzehnten bis zum dreiundzwanzigsten Lebensjahr "nur breit" gewesen. In der Berufsschule habe seine Suchtkarriere mit einem massiven Alkoholkonsum begonnen.
Matti wollte mich küssen. Ich erklärte ihm, daß nur Rafa mich auf den Mund küssen darf, daß aber viele mich auf die Wange küssen dürfen. Letzteres tat er denn auch.
Im "Verlies" traf ich Zerline wieder, die ich aus der "Neuen Sachlichkeit" kenne. Zerline war in Puppen-Theo verliebt, als er in der "Neuen Sachlichkeit" seine makaber und frivol dekorierten Parties gab. Von Puppen-Theo hat Zerline schon lange nichts mehr gehört. Vielleicht ist er ins Rotlicht-Milieu zurückgekehrt, wo er früher schon beheimatet war.
Rafa hat eine Serie von selbstgemachten Hörspielen auf eine eigens dafür geschaffene Website gestellt, die angelehnt sind an Science-Fiction-Hörspiele aus seiner Kinderzeit. Allerdings handelt es sich bei Rafas Hörspielen um wenige Minuten dauernde, amateurhaft gestaltete Scherz-Hörspiele mit angeheitertem Party-Gag-Charakter. Sie werden ergänzt durch wenige Sekunden dauernde Outtakes mit angestrengtem Gelächter im Hintergrund.
Die Hauptfigur der Hörspiele wird von Rafa gesprochen und heißt "Commander L.". In ganzer Länge hat Commander L. einen Namen, der mit Kreationen wie "Captain Chromglanz" oder "Rächer des Universums" vergleichbar ist.
Eines der Hörspiele trägt den Titel "Härta". In dem Hörspiel macht Rafa sich lustig über ein Pärchen aus der ehemaligen DDR, das sächsisch redet - "Ilse" und "Horst". Commander L. bezeichnet das Telefonieren auf Sächsisch als "humanoiden ästhetischen radikalen Terroralarm". Er glaubt, Ilse und Horst seien in Not, und er müßte ihnen zur Hilfe kommen. Als er Ilse erblickt, wird er anderen Sinnes:
"Was ist das denn für eine Schrapnelle? Da gehe ich aber nicht bei. Computer! Wir brechen die Rettungsaktion aus ästhetischen Gründen ab."
Es ist schon mehrmals vorgekommen, daß Rafa andere Leute wegen ihres Aussehens öffentlich beleidigt hat. Vor einigen Jahren wollte er einem Mädchen kein Autogramm geben mit der Begründung, es sei zu dick. Rafa scheint auch dies witzig gefunden zu haben.
Meines Wissens konnte Rafa sein antisoziales Verhalten bisher immer ungebremst betreiben, es gab nie ernste Konsequenzen. Das liegt wahrscheinlich an Rafas Gespür, wie weit er in welcher Situation und mit welchen Menschen gehen kann, ohne an Grenzen zu stoßen.
Anfang April fuhren Constri, Denise und ich nach S. Auf dem Weg dorthin trafen wir uns in WÜ. mit Victoire. Wir gingen durch die abendlichen Straßen der barocken Altstadt. An der historischen Mainbrücke setzten wir uns in das gemütliche Bistro, wo Victoire und ich schon vor anderthalb Jahren zu Abend gegessen haben. Wir hatten einen direkten Blick auf die Brücke und die Schiffsampel, die sich an einem der mächtigen Brückenpfeiler befindet. Heute zeigte die Ampel immer Rot, denn der Wasserstand war zu hoch für die Schiffahrt. Victoire erzählte von ihrer Arbeit für die Universität WÜ. In ihrer Arbeitsgruppe beschäftigt sie sich mit der Apoptose - dem progammierten Zelltod - und mit der Verhinderung der Apoptose. Es wird an T-Zellen geforscht. Im Auftrag einer Pharmafirma forscht Victoires Chef an einem Medikament, das vor Kurzem in England sechs Testpersonen beinahe umgebracht hat. Das Ereignis ging durch die Medien. Tieren hat das Medikament bisher nicht geschadet, so daß die gefährliche Wirkung bei Menschen völlig unerwartet kam. Bei den Tieren, denen es verabreicht wurde, stabilisierte es das Immunsystem, bei den menschlichen Probanden jedoch wirkte es auf das Immunsystem verheerend.
Victoire erzählte von ihrem neuen Freund, mit dem sie seit acht Wochen zusammen ist. Shara ruft seitdem kaum noch bei ihr an.
In diesem Jahr hat Shara seinen Geburtstag in einer Reha-Klinik gefeiert, wo er sein Rückenleiden behandeln läßt. Victoire und ich haben ihm Geburtstagskarten geschickt.
In S. gingen Constri, Denise und ich mit Lisa und ihren Kindern in den Weinbergen spazieren. Lisa erzählte, daß sie und ihre Eltern sich Sorgen machen um Lisas Bruder Garret. Sie haben schon länger nichts mehr von ihm gehört. Garret lebt in der Wohnung in Wien, die seinem Vater Irmin gehört. Garret soll eine Freundin haben, die einen merkwürdigen Einfluß auf ihn hat. Eine Zeitlang sollen die beiden Mitglied einer parachristlichen Gemeinde gewesen sein.
Abends saßen wir im Glaserker von Irmins Haus. Irmin erzählte von seiner Nachbarin. Die vierundneunzigjährige Dame lebt allein in einem baufälligen Haus mit derselben traumhaften Aussicht, die auch Irmin genießt. Eine Hausreihe dahinter, auf der anderen Straßenseite, lebt eine Dame, die das Haus von Irmins Nachbarin gekauft hat, es aber erst erhalten wird, wenn die alte Dame verblichen ist. Die neue Besitzerin wartet ungeduldig; sie will das Haus abreißen lassen und hat schon die Baupläne für ein Mehrfamilienhaus genehmigen lassen. Die Vierundneunzigjährige aber erfreut sich guter Gesundheit.
"Die stirbt grad' nicht", meinte Irmin. "Die will der anderen das Haus nicht gönnen, das hält sie am Leben. Die wird noch hundertzehn."
Irmin und seine Frau Jana haben mit einer anderen älteren Dame viel Ärger. Sie heißt Thea und ist neunzig Jahre alt. Ihr Sohn kam bei einem Unfall ums Leben. Aufgrund einer viele Jahre währenden Bekanntschaft hat Thea Irmin einen Teil des Erbes versprochen und ihm dafür das Versprechen abgenommen, nach ihrem Umzug ins Altenheim für ihre Sachwerte zu sorgen.
"Mr dirfet nix weggebbe", erzählte Irmin.
Vierhundert Kleider und achtzig Hüte haben Irmin und Jana gezählt. Außerdem gehören wuchtige Möbel zu ihrem Besitz, deren Schnörkel- und Chippendale-Stil nicht zu der Einrichtung von Irmin und Jana paßt. Nun sind die Möbel überall im Haus verteilt und stechen seltsam heraus. Thea soll nach dem Motto leben:
"Ich kaufe, also bin ich."
"Das Zeug könnt ihr nach Theas Tod einzeln verticken", meinte ich, "dann bringt es mehr ein als im Set."
"Ja, noch ist sie aber nicht tot", seufzte Irmin.
Jana riet ihrem Mann, von Thea Geld für die Lagerhaltung zu nehmen. Das will er aber nicht, weil lediglich der Preis eines Anteils am Erbe ausgehandelt war, und das ist für ihn bindend.
Am Samstag war ich im "Radiostern". Unter anderem lief dort "Womb" von :wumpscut:, das ich vorher noch nie in einer Discothek gehört habe und das mir sehr gefällt. Es weckt trostlose Erinnerungen an die Zeit um das Jahr 2000, als ich das Stück oft im Auto gehört habe. Trostlos war die Zeit deshalb, weil ich Rafa damals sehr selten gesehen habe, auch im "Zone" erschien er kaum noch. Ich war hingegen häufig im "Zone". Neben dem "Zone" befindet sich das Gelände einer Firma, die Müllcontainer herstellt. Den Namen dieser Firma habe ich der Hauptfigur in der Bildergeschichte "Beloved Dustbin" gegeben.
Im "Radiostern" traf ich die zierliche Tana, die heute ein Korsett mit Nadelstreifen trug, garniert mit Lackriemchen und Schnallen.
"Eine Tortur, vor allem im Auto", stöhnte sie.
"Aber so hübsch", bewunderte ich das Korsett.
Tana gefällt mein Comic "Beloved Dustbin".
"Aber das ist natürlich eine hammerharte Anspielung auf Rafa", bemerkte sie.
"So ist es auch gedacht", bestätigte ich. "Es ist aus Frust entstanden und soll dazu dienen, Frust kreativ umzuarbeiten."
Tyra und ich besuchten Joujou, um die Shootings für unsere Foto-Lovestory zu planen. Joujou hat sich vor Kurzem von Marian getrennt, dem Vater ihrer Tochter Jeanne. Da Joujou für sich und Jeanne noch keine andere Wohnung gefunden hat, lebt sie vorerst noch mit Marian und Jeanne in dem Haus von Marians Eltern. Die junge Familie bewohnt das Dachgeschoß. Joujou erklärte, sie habe sich von Marian vernachlässigt gefühlt und deshalb entschieden, sich von ihm zu trennen.
Jeanne kroch mit einem Schnuller im Mund über den Boden und schaute mit wachen, neugierigen Kinderaugen um sich.
"Sie ist so süüß", mußte ich ein ums andere Mal sagen.
"Wie reagiert Darienne darauf, daß du dich mit mir und Hetty triffst?" erkundigte sich Tyra bei Joujou.
"Sie hat gesagt, sie weiß nicht, was sie mir noch erzählen soll", antwortete Joujou. "Ich habe zu ihr gesagt, daß ich nur etwas weitergebe, wenn ich überzeugt bin, daß es die Wahrheit ist."
"Wie würde Darienne auf die Foto-Lovestory reagieren?" überlegte Tyra.
"Das habe ich ihr schon gesagt", berichtete Joujou. "Sie hat gesagt, wenn ich meine, daß ich das tun müßte, sollte ich es tun. Ich habe ihr erklärt, daß ich das nicht mache, um sie in den Schmutz zu ziehen, sondern um sie aufzurütteln, indem ich die Wahrheit über Rafa darstelle."
Tyra zeigte sich überrascht, weil Joujou so freundlich zu ihr war.
"Immerhin bin ich Dariennes Rivalin", gab Tyra zu bedenken."
"Mir geht es nur darum, Darienne zu helfen", betonte Jojou.
Tyra berichtete, daß Darienne schon die vierte Blasenentzündung durchgemacht hat.
"Rafa muß sich auch behandeln lassen", meinte ich. "Bei dem steckt sie sich doch immer wieder an. Weiß Darienne, daß Rafa sie wahrscheinlich immer wieder infiziert?"
"Zumindest habe ich ihr gesagt, daß Rafas Sofa mal gekärchert werden müßte", erzählte Joujou. "Da hat Darienne mich gefragt, woher ich das mit dem Sofa weiß. Ich habe geantwortet:
'Das ist allgemein bekannt.'"
"Ich habe das Sofa mal zu reinigen versucht, mit einem Hochdruckreiniger", erzählte Tyra.
Weit ist sie damit nicht gekommen.
"Eigentlich ist das doch Körperverletzung, was Rafa mit den Frauen macht", meinte Tyra.
Joujou erzählte, daß sie Darienne schon seit einigen Jahren kennt. Früher sei Darienne ein unscheinbares Mädchen gewesen. Nach einem Jahr als Austauschschülerin in den USA sei Darienne äußerlich verwandelt gewesen. Sie habe sich als "Barbie" dargestellt, als rosa Plastikpuppe. Sie habe begonnen, als Fotomodell zu arbeiten und sei überheblich geworden.
Marian erzählte, Dariennes Vater sei gewalttätig. Er habe auch Darienne geschlagen. Dariennes Mutter habe sich von ihm getrennt. Danach sei ein Stiefvater in die Familie gekommen.
Im Alter von fünfzehn Jahren habe Darienne eine Schwangerschaft abbrechen lassen. Sie habe bisher fast nur Lebensgefährten gehabt, die wesentlich älter seien als sie. Marian vermutet, daß Darienne Männer bevorzugt, die eine Vaterrolle einnehmen.
Darienne sei materiell verwöhnt worden. Sie habe viel Taschengeld bekommen, so daß sie im Alter von sechzehn Jahren auf dem großen Sommerfestival in HI. in einer Kostümierung erscheinen konnte, die sich viele Altersgenossinnen nicht hätten leisten können.
Joujou und Marian erzählten, daß sie Darienne Ende Januar des vergangenen Jahres mit Rafa im "Zone" gesehen haben. Damals waren Darienne und Rafa noch nicht zusammen. Joujou warnte Darienne vor Rafas Verführungsmethoden.
"Oh, da passiert schon nichts", meinte Darienne.
Darius bekam ebenfalls mit, daß Rafa sich an Darienne heranmachte, und informierte Tyra. Die wußte deshalb schon früh bescheid über Rafas Pläne mit Darienne.
Joujou und Marian erzählten, Darienne sei inzwischen von ihrer Mutter hinausgeworfen worden und in eine winzige Wohnung gezogen, die sie mit Mühe halten könne.
Joujou und Marian erinnerten sich an Dariennes Geburtstagsfeier, die im August des vergangenen Jahres stattfand, wenige Tage vor der Tanzveranstaltung im "Keller", auf der Rafa und Darienne sich stritten. Darienne habe ihren Geburtstag in ihrer eigenen Wohnung gefeiert. Rafa habe die Organisation der Feier an sich gerissen und die Feier zur Selbstdarstellung verwendet. Er habe den Alleinunterhalter gegeben und die anderen Gäste kaum zu Wort kommen lassen.
Über Dariennes beruflichen Werdegang erzählte Joujou, Darienne sei zu ihrem Friseur-Praktikum nach wenigen Wochen einfach nicht mehr hingegangen. Auch zu der Aufnahmeprüfung für eine Schauspiel-Ausbildung, an der sie teilnehmen wollte, sei Darienne nicht hingegangen. Zuvor habe Rafa ihr eingeredet, sie könne das sowieso nicht.
Darienne bekomme Kindergeld und gehe keiner regulären Berufstätigkeit nach. Sie behaupte, bei Rafa viel Geld zu verdienen.
"Ansonsten sitzt sie bei Rafa im Keller", erzählte Joujou. "Sie ist fast dauernd bei ihm."
Während wir uns mit dem Storyboard für die Fotostrecke beschäftigten, simste Darienne an Joujou, sie sei gerade bei Rafa in seinem Keller. Joujou fragte, wie es dort sei.
"Wie immer ... langweilig", erwiderte Darienne.
Tyra nimmt an, Darienne harrt trotz der Langeweile in Rafas Keller aus, um ihn zu bewachen. Sie befürchtet, daß er sich andere Frauen in den Keller holt, wenn sie fort ist.
"Das stelle ich mir so schrecklich vor, andauernd in diesem dunklen, gammeligen Keller herumzuhängen", erschauerte ich.
"Ich habe das auch lange gemacht", erzählte Tyra. "Ich war bei ihm, damit er keine andere hat. Manchmal war ich tagelang da. Rafa läßt die Mädchen immer so lange bei ihm im Keller sitzen, bis er sagt:
'So - Feierabend. Jetzt brauch' ich Ruhe.'
Dann schickt er die Mädchen weg und holt sich andere."
Tyra hat von Lucy gehört, daß Darienne auf einer Tournee von W.E im Auto gerufen hat:
"Macht Platz für die Arier!"
Außerdem habe Darienne gerufen:
"Ich hasse alle Menschen! Ich hasse alle Frauen!"
Tyra betrachtet Dariennes Haß-Parolen als Zeichen der Selbstisolation. Darienne erklärt alle Menschen zu Feinden und stellt sich damit abseits der Gemeinschaft. Darienne will sich über die Menschen stellen, dabei macht sie sich lediglich zum Außenseiter. Daß Darienne sich selbst dadurch schwächt, ist ihr nicht bewußt.
Dariennes Haßparolen gegen Frauen - und damit auch gegen sich selbst - könnte sie Rafa nachgesprochen haben, von dem solche Parolen bekannt sind.
Tyra meinte abmildernd, wenn Rafa behaupte, alle Frauen zu hassen, bedeute das wahrscheinlich nur, daß Rafa lästernde Frauen hasse oder daß er das Lästern von Frauen hasse. Ich entgegnete:
"Dann müßte er sagen:
'Ich hasse Menschen, die lästern.'
- aber nicht:
'Ich hasse alle Frauen.'
Er kann das dann nicht verallgemeinern."
Tyra meinte, Rafa dränge seine Freundinnen in die Selbstisolation. Er erlege ihnen ein Schweigegebot auf mit der Begründung, daß es niemanden etwas angehe, was in der Beziehung passiere. Dies bedeutet zugleich, daß seine Freundinnen sich nie mit anderen Menschen über ihre Erlebnisse mit ihm austauschen können und sich nie Rat suchen können. Rafa schwächt seine Freundinnen dadurch. Tyra erzählte, sie habe sich während ihrer Beziehung mit Rafa weitgehend von ihren eigenen Freunden und Bekannten zurückgezogen. Sie sei immer einsamer geworden und habe eine Mauer aus Argwohn und Mißtrauen aufgebaut. Das sei eigentlich Rafas Mauer gewesen, in die er sie miteingeschlossen habe. Rafa habe dafür gesorgt, daß Tyras Welt nur noch aus Rafa bestand. Er habe behauptet, ihre Beziehung sei wie ein Ball, den sie einander zuspielten und der dabei immer größer werde.
Joujou erzählte, sie habe Darienne vorgeschlagen, mit mir eine Tasse Kaffee zu trinken, das würde ihr bestimmt helfen.
"Hast du noch alle Tassen im Schrank?" habe Darienne entgegnet.
Joujou erklärte, ich hätte Ahnung von Psychologie, außerdem sei ich die einzige Frau, die in der Lage sei, mit Rafa fertigzuwerden. Sowohl sie selbst - Joujou - als auch Tyra hätten Schwachstellen und seien manipulierbar, so daß sie nicht mehr das tun, was sie wirklich wollen. Auf mich treffe das nicht zu.
Bevor Joujou mit Marian zusammenkam, war sie sechs Jahre lang mit einem gewalttätigen Alkoholiker liiert, der sie mißhandelte und mißbrauchte. Schließlich kam Joujou mit schwersten Verletzungen auf die Intensivstation und lag im Koma. Der Täter mußte ein hohes Schmerzensgeld zahlen.
Als Joujou ein Kind war, wäre sie gern bei ihrem Vater in den USA geblieben, doch ihre Mutter nahm sie mit nach Deutschland. Sie log Joujou vor, man wolle nur bei den Großeltern Urlaub machen. Stattdessen blieben sie dort wohnen. Joujou vermißt ihren Vater. Sie habe in der Jugend viele Probleme gehabt und sich auch selbst verletzt.
Joujou fällt es schwer, sich abzugrenzen und zu schützen. Ihren Vater erlebt sie als Beschützer.
Tyra fällt es ebenso schwer, sich abzugrenzen und zu schützen. Dadurch hatte Rafa mit ihr leichtes Spiel. Tyra erzählte Joujou, von wann bis wann sie mit Rafa ein Verhältnis hatte. Nun kam heraus, daß Tyra bis in dieses Frühjahr hinein mit ihm "das Kopfkissen teilte".
Tyra hat Rafa dieser Tage angerufen, weil er ihr noch Geld schuldet.
"Nächste Woche kriegst du's", versprach er ihr. "Ich ruf' dich nächste Woche an."
"Das tust du sowieso nicht", entgegnete Tyra. "Laß uns lieber einen Tag festmachen."
Sie einigten sich auf den kommenden Dienstag.
"Der sagt, er gibt dir das Geld, aber in Wirklichkeit verführt er dich bloß", meinte ich.
Marian schlug Tyra vor, sich das Geld mit Hilfe eines Anwalts zu beschaffen.
"Na, dann tut er mir wieder so leid ...", zögerte Tyra.
"Der darf dir nicht leidtun", entgegnete ich. "Du hilfst ihm nicht damit. Er ändert ja nichts."
"Aber er hat doch schon genug gelitten."
"Der hat noch nicht genug gelitten, sonst hätte er sein Verhalten schon geändert."
Ich erzählte Joujou, daß Rafa vor weniger als zwei Wochen schon wieder versucht hat, Tyra zu verführen. Tyra gestand, daß sie vor Kurzem mit Rafa im Bett gewesen sei, weil sie sich nicht von ihm habe lösen können. Sie habe sich nun allerdings von ihm losgesagt.
Rafa scheint Tyras Hörigkeit zu genießen. Sie sagt ihm regelmäßig, daß sie nichts mehr von ihm will, und regelmäßig schafft er es, dennoch ans Ziel zu kommen.
Joujou erzählte, daß Darienne einmal nachts bei ihr angerufen hat. Darienne sagte zu Joujou, sie überlege, sich von Rafa zu trennen. Sie überlege, Rafas Haus zu verlassen und zu Joujou zu kommen. Etwas später rief Darienne noch einmal an und sagte zu Joujou:
"Ach nein, doch nicht, mir geht es gut."
Darienne hat sich mit Joujou schon mehrmals vor dem Getränkeladen getroffen, der sich neben Tyras Wohnung befindet. Sie standen auf dem Hof unter Tyras Küchenfenster. Tyra wußte davon bisher nichts. Rafa weiß davon immer noch nichts. Darienne behauptete Rafa gegenüber, sie wolle nur kurz spazieren gehen, wenn sie vorhatte, sich mit Joujou vor dem Getränkeladen zu treffen. Der Laden befindet sich zwischen den Häusern von Rafa und Tyra an einer Kreuzung.
Joujou erzählte, als sie sich Ende August des vergangenen Jahres mit Darienne vor dem Getränkeladen traf, habe Darienne gewirkt wie jemand, dem man nicht mehr in die Augen gucken könne. Joujou sah Dariennes Verletzungen an den Armen und sprach sie darauf an. Darienne erwiderte zögernd, Rafa habe sie da mal "irgendwie angefaßt".
Wir unterhielten uns über Rafas Gewalttätigkeit.
"Mich hat der nie angefaßt", betonte Tyra. "Nie."
"Er schlägt offenbar auch nur die, die er offiziell als seine Freundin bezeichnet", meinte ich. "Dich hat er ja nie offiziell als Freundin bezeichnet."
Von vier Mädchen wird berichtet, daß Rafa sie mißhandelt hat: Luisa, Tessa, Berenice und Darienne. Mit allen war oder ist Rafa offiziell liiert, und mit allen über längere Zeit.
Marian erzählte, in den Jahren, als die Wave- und Gothic-Szene noch nicht so populär gewesen sei, habe es in ganz SHG. höchstens vier oder fünf Leute gegeben, die diesen Stil pflegten, und die kannten sich untereinander. Bibian, die Wirtin vom "Keller", gehörte dazu. Auf diese Weise habe Bibian viel mitbekommen von dem, was sich zwischen Rafa und seinen Liebschaften abgespielt habe. Sie habe auch gewußt, daß Rafa Berenice mißhandelte.
Tyra klagte, von all dem habe sie nie etwas gewußt, ihr habe niemand davon erzählt. Alle hätten geschwiegen.
"Rafa hat mich in eine furchtbare Zwickmühle hineingelockt", meinte Tyra. "Ich bin ihm in die Falle gegangen. Einerseits hat er mich entwertet, und ich habe mich wie der letzte Dreck gefühlt. So hat er mich auch bezeichnet. Andererseits ist er immer wieder angekommen und hat mich gedrückt und gesagt:
'Aber ich lieb' dich doch.'
Dann habe ich immer gedacht, jetzt ist ja alles wieder gut. So macht er's immer - Zuckerbrot und Peitsche."
Tyra erzählte, daß Lucy und sie die violetten Kleider selbst genäht haben, die sie im vergangenen Jahr auf der Bühne trugen. Rafa soll über die Kleider gelästert haben.
"Die sehen ja wie Säcke aus", soll er über die Kleider gesagt haben, die eng auf Figur geschnitten sind und weite Röcke haben - also alles andere als die Form eines Sacks.
Tyra erzählte von einem Besuch bei Rafa vor zwei Wochen. Rafa verlangte sogleich von ihr, mit ihm ins Bett zu gehen. Tyra lehnte das ab. Nun begann Rafa, ihr Vorhaltungen zu machen wegen eines Online-Gästebuch-Eintrags auf Rafas "Nachtkuss"-Website über das berüchtigte Sofa in seinem Keller. Der Gästebuch-Eintrag stammte von mir. Rafa unterstellte Tyra, der Eintrag stamme von ihr. Sie konnte beteuern, soviel sie wollte, daß sie den Eintrag nicht geschrieben hatte, er glaubte ihr nicht.
"Dann muß ich herausfinden, wer das war", sagte Rafa schließlich.
Das war seine Art, einzulenken.
Tyra wußte, daß der Gästebuch-Eintrag von mir stammte, doch das sagte sie Rafa nicht.
Am Ende der Auseinandersetzung verlangte Rafa erneut von Tyra, daß sie mit ihm ins Bett ging. Sie ließ sich laut ihrer eigenen Angaben nicht darauf ein.
Tyra hat in das Online-Gästebuch von H.F. einen kritischen Eintrag geschrieben, den Rafa kurz darauf gelöscht hat. Danach schrieb Tyra in das Gästebuch:

He, du hast meinen Eintrag einfach gelöscht, obwohl doch meine E-Mail-Adresse dringestanden hat, was soll das?

Dieser Eintrag steht inzwischen auch nicht mehr im Online-Gästebuch von H.F.
"Rafa löscht immer nur die Kritik 'raus", beklagte Tyra.
Joujou erzählte von einer Zickerei im "Roundhouse". Neulich hat sie einen Besenstiel mit ins "Roundhouse" genommen und ist damit auf zwei Mädchen zugegangen, auf die sie nicht gut zu sprechen ist. Die Mädchen tragen Mopp-ähnliche Kunsthaarfrisuren. Joujou rief mit dem Besenstiel in der Hand den Mädchen zu:
"Wo ist mein Mopp? Ich kann meinen Mopp nicht finden."
Diese Art von Ironie hätten die beiden Mädchen aber nicht verstanden.
"Wileda-Look!" legte Joujou nach. "Man, find' ich das toll."
Das hätten die Mädchen immer noch nicht verstanden.
"Manchmal nützt der beste Scherz nichts, wenn der Adressat ihn nicht versteht", dachte ich.
Im W.E-Forum verkündete Rafa:

Neues Im Netz
Sehr verehrte Damen und Herren,
die Zeichen stehen wirklich gut für ein W.E-Jahr!
Nach dem auch hier im Forum kleine Deskrepanzen sich endlich geklärt haben, können wir wohl im Laufe der nächsten Zeit mit dem 1000. Mitglied prahlen.
An dieser Stelle: Dank & Respekt allen Forum-Mitgliedern!
Weiter wird wohl auch der 300.000. Besucher die W.E-Seite erklimmen ... Womit wir auch gleich beim Stichwort sind; die neue W.E-Seite ist grad in Arbeit, macht sich schon sehr gut und wird wohl in den kommenden Monaten ins Netz gehen.
Die kommende Sendung wird ebenfalls dieses Jahr in den Äther gestrahlt. Wer uns kennt, wird wissen, dass hier nicht mehr verraten wird.
Hochachtungsvoll
W.E

Als "kleines Bon-Bon" gibt es die URL zu einem Video für den H.F.-Titel "Ich-Komplex". Mit der "kommenden Sendung" meint Rafa in seinem Jargon das nächste Album von W.E.
Wave zitiert im W.E-Forum begeistert, wie Rafa ihm geschmeichelt hat:

"Ich mag die Art, wie Wave mir meine Welt viel schöner macht."

Rafa hat Waves Namen in eine Textzeile eingebaut, die in seinem Stück "Deine Augen" vorkommt:

"Ich mag die Art, wie du mir meine Welt viel schöner machst."

Als "moonsoon" schrieb ich:

Es heißt nicht "Deskrepanzen", sondern "Diskrepanzen".

Artemis schrieb:

Ist Betty zurück???

Wave schrieb:

Das heißt Bett

Artemis schrieb:

Ohja ... ich will nich auf den elektrischen Stuhl, sondern aufs elektrische Bett

Aramis schrieb:

Zitat Artemis:
Ist Betty zurück???

Genau das dachte ich auch grade

Icon nahm Bezug auf Rafas Rechtschreibfehler:

Wenn man wollte, dann könnte man da noch mehr korrigieren. Aber hat das Betty öfters gemacht?
"Die Kultur der Sprache ist der IQ-Indikator eines Volkes."
Zitat Honey 2001


Nightshade schrieb:

*lol* ... da hatte wohl jemand irgendwie zu viel getrunken bei der erstellung des artikels da oben???!!!!
honey - du warst mein gott der germanistik - bis jetzt *gggggggggggggggggg*

Wave schrieb:

Nicht jedes Produkt ist perfekt (leider) und vielleicht irgendwann auch mal der Mensch.
Ihr macht ja bestimmt nie Fehler ...

Ich schrieb:

Fehler macht jeder. Wenn ich Rechtschreibfehler mache, freue ich mich, wenn jemand sie korrigiert.

Chérie schrieb:

Ich nicht. Find ich total nervig, wenn dann korrigiere ich sie selber, aber dann mit so 'nem arroganten Ton korrigiert zu werden - nein danke.

Ich schrieb:

Sachlich, nicht arrogant. Es geht mir um eine sachliche Korrektur.
Flüchtigkeitsfehler kann man selber korrigieren, wenn man sie entdeckt, aber wenn man ein Fremdwort nicht korrekt schreiben kann, hilft es, wenn jemand anders die richtige Schreibweise kennt. Ich bin für diese Art konstruktiver Kritik immer dankbar.

Icon schrieb:

Volle Zustimmung.

Dany schrieb:

Ich mach ständig Rechtschreibfehler, war schon immer ne Schwäche von mir.

Mitte April war ich im "Lost Sounds", wo es ein Festival gab mit Xotox, FabrikC und Noisuf-X. Heloise war auch dort. Sie berichtete, daß Joujou seit Neuestem mit Marvel zusammen ist, einem DJ vom "Roundhouse". Joujou lebt immer noch in Marians Elternhaus, sie will aber in nächster Zeit mit Marvel zusammenziehen und ihre Tochter Jeanne mitnehmen.
Berenice erzählte in einer E-Mail von Gerüchten, die Rafa über sie in Umlauf bringt:

Ich habe heute erfahren, dass Rafa herumerzählt, er habe mit mir Schluss gemacht.

Ich schrieb:

Rafa kann nicht zugeben, daß er etwas versiebt hat. Selbst wenn's offensichtlich ist ...

Berenice hat auf ihre Website einen Text gestellt, in dem sie Rafa öffentlich bittet, die Samples mit ihrer Stimme nicht mehr für Auftritte seiner Bands zu verwenden, sondern das Urheberrecht zu respektieren und die Sängerinnen einzusetzen, die er zur Verfügung hat. Rafa wurde sogleich wütend. Berenice schilderte mir seine Reaktion:

Rafa schrieb mich letzte Woche in einem beleidigenden, respektlosen Ton an, ich solle den Text von meiner Seite nehmen. Darienne hätte fast geheult, als sie das gelesen habe ... Jedenfalls geht es seitdem hoch her - es weitet sich gerade zu einem Krieg aus. Rafa sagte, Darienne könne besser singen als ich, sähe besser aus als ich und liebe ihn mehr als ich (im letzten Punkt hat er definitiv recht, die anderen kann ich nicht beurteilen). Ich habe ihm Oberflächlichkeit vorgeworfen und ihn aufgefordert, es zu unterlassen, meine Stimme vom Band zu spielen während der Konzerte, wo sie ja nur so tut, als ob. Darienne könne ja besser singen, da sei es ja wohl kein Problem, diese Forderung zu erfüllen. Und wenn sie sich dann doch mal versinge, könne sie das ja mit ihrem Aussehen wettmachen ;)

Darienne schrieb an Berenice ebenfalls, sie halte von Berenices Gesang nichts, und es sei ein Leichtes für sie, die Texte selbst zu singen.
Ich schrieb an Berenice:

Darienne kommt schlecht damit klar, wenn andere sie kritisieren. Anstatt aber z.B. auf dich wütend zu sein, sollte sie lieber auf Rafa wütend sein! Der kritisiert sie nicht einfach, der benutzt sie und mißhandelt sie. Aber das will sie ja nicht wahrhaben.
Wenn Darienne den Gedanken faßt, Rafa zu verlassen, läßt sie ihn ebenso schnell wieder fallen. Einmal war sie nachmittags bei Joujou zum Kaffee. Rafa klingelte und sagte zu Joujous Freund Marian:
"Mir ist langweilig. Ich will Dari."
Marian und Joujou verweigerten die Herausgabe von Darienne, so daß Rafa unverrichteter Dinge wieder abziehen mußte. Es kostete Marian und Joujou einige Mühe, zu verhindern, daß Darienne sofort hinuntersprang und sich von Rafa mitnehmen ließ.

Tyra erzählte am Telefon, es gebe eine große Verwirrung, denn Berenice habe vor, mit Charlize, Kitty und Lucy ein Komplott gegen Rafa zu schmieden. Charlize habe Tyra davon erzählt, nachdem Darius ihr eine E-Mail von Berenice vorgelesen habe. Tyra habe Rafa sogleich von der geplanten Verschwörung unterrichtet, da sie sich ihm nach wie vor freundschaftlich verbunden fühle. Sie habe sich vorher nicht bei Berenice erkundigt, ob das, was Charlize erzählt hatte, überhaupt zutreffe. Sie sei sogar noch weiter gegangen; sie habe Berenice in einer SMS bittere Vorwürfe gemacht und geäußert, den Kontakt zu ihr abbrechen zu wollen. Ich erklärte Tyra, eine solche Verschwörung gebe es nicht; vielmehr habe Charlize offensichtlich die E-Mail von Berenice falsch verstanden. Berenice wolle Rafa keineswegs vernichten; ihr gehe es lediglich darum, daß Rafa ihre Stimme nicht mehr auf seinen Konzerten verwendet, ohne dieses vorher mit ihr abzusprechen. Tyra tat nun ihr unbedachtes Verhalten leid, und sie wollte es wieder gutmachen.
"Wir sind alle wie aufgeregte Hühner", meinte Tyra, "und du bist wie der Bauer, der sie wieder in den Stall treibt."
An Tyras Verhalten fällt mir die Diensteifrigkeit auf, mit der sie sich vor Rafa wirft. Sie fühlt sich einem Menschen verpflichtet, der sich nie zu ihr bekannt hat und sie immer wieder bloßstellt und entwertet. Tyra ist ihre Hörigkeit durchaus bewußt; sie kennt ihre Schwierigkeiten, sich gegen Rafa abzugrenzen.
Ich erzählte Tyra, daß Berenice E-Mail-Kontakt zu Darienne aufgenommen hat und ihr mitgeteilt hat, daß sie sich wahrscheinlich bei Rafa immer wieder mit einer sexuell übertragbaren Krankheit ansteckt. Darienne soll geantwortet haben, das interessiere sie nicht.
"Das hat Rafa ihr beigebracht", meinte Tyra. "Rafa will immer, daß man sagt, es interessiere einen nicht, wenn jemand einen vor Rafa warnt."
Einige E-Mails später waren die Mißverständnisse beseitigt. Berenice berichtete, ihr sei sogar ein höflicher E-Mail-Austausch mit Darienne gelungen. Um des lieben Friedens willen entfernte Berenice den Text von ihrer Website, in dem sie auf ihr Urheberrecht verwies. Vor allem wollte sie Valerien schonen, der um das Ansehen der Band W.E fürchtete. Für Valerien ist die Leitung des W.E-Fanclubs eine Herzenssache.
Von Rafa erhielt Berenice noch weitere unerfreuliche E-Mails. In einer E-Mail behauptete Rafa, er habe Berenices E-Mail-Account gehackt. Er triumphierte mit den Worten:
"Falle zugeschnappt!"
Als Grund für den angeblichen Hack nannte Rafa, er habe Beweise gesucht und gefunden für seine Annahme, daß Berenice unter falschem Namen störende Einträge im Online-Gästebuch von H.F. hinterlassen habe. Berenice zog in Erwägung, Rafa wegen Verleumdung zu belangen. Ich mailte an Berenice:

Rafa sucht anscheinend nach dem universellen Feind. Er wird den universellen Feind nie finden, weil er nie in sich selbst sucht, da sitzt sein Feind nämlich, in Gestalt von Selbstverleugnung, Haß und Menschenverachtung.
Wenn Rafa irgendwelche Feinde argwöhnt, die aus irgendwelchen Ecken springen, sollte man ihm zurufen:
"Guck in den Spiegel!"
Alles, wovor er ernstlich Angst haben muß, ist nur in ihm selber.

Über Rafas Selbstwertgefühl schrieb ich:

Die Bescheidenheit, zuzugestehen, daß er nur einer von vielen ist und nicht besser oder schlechter als andere - das ist es, was Rafa fehlt. Er wird sofort unsicher, wenn man ihn wie den Teil einer Gruppe behandelt und ihn nicht den Anführer spielen läßt. Damit wären wir wieder bei seinem Kernproblem, nämlich dem gestörten Selbstwertgefühl.

Berenice schrieb:

Habe versucht, diesen Punkt gezielt einzusetzen, und es hat hervorragend funktioniert :) Auf eine solche E-Mail schrieb Rafa sichtlich sauer zurück, dass er keine Lust mehr hat, sich von mir beleidigen zu lassen - und dabei war ausdrücklich nichts Beleidigendes enthalten!

Über Rafas Verhältnis zu Kritik schrieb ich an Berenice:

Rafa fühlt sich auch dann schon beleidigt, wenn man ihn sachlich kritisiert. Er ist nicht in der Lage, sich seinen eigenen Schwächen zu stellen. Er sieht sich von einer Welt voller Feinde umgeben, und diese Paranoia verstärkt sich, je mehr er sich isoliert. Das ist ein Teufelskreis.
Tyra hat mir erzählt, daß sie jahrelang unten bei Rafa im Keller saß und seine paranoide Haltung mehr und mehr übernahm. Er leitete sie an, sich von ihren eigenen sozialen Kontakten abzuschirmen und nur noch ihm zur Verfügung zu stehen.

Über Rafas Keller schrieb Berenice:

Rafa wollte auch mit mir dort unten Sex haben oder dort übernachten - ich habe mich aber dagegen gesträubt.
Einzig schön war es dort unten, wenn Rafa am 64er spielte und ich ihm dabei zusah mit einer warmen Tasse Tee. Aber das ging nie lange gut: er wollte immer, dass das Fensterchen zu blieb, aber dabei rauchte er. Der Streit war jedes Mal absehbar ;)

Ich schrieb:

Früher - d.h. vor 20 Jahren - war ich weniger anspruchsvoll als heute, da hätte es mir vielleicht in dem Rattenloch gefallen, doch heute kann und will ich mich in einem solchen Domizil nicht mehr einrichten.

Berenice schrieb:

Selbst vor 20 Jahren wäre ich damit nicht klar gekommen. Was meinst Du, warum ich so viel und oft geputzt habe - jedes Wochenende wieder neu aufgeräumt??? Wundere mich, wie die anderen Mädels damit klar kommen / kamen.

Platinum erzählte in einer E-Mail von ihrer Hochzeit mit Titan. Sie waren nicht auf Hochzeitsreise, doch im Sommer wollen sie für eine Woche in einer Art Yoga-Kloster wohnen. Für Platinum ist Yoga etwas Ähnliches wie eine Religion.
Platinum vermutet, daß ein umgestelltes Bett und ein magischer Stein um den Hals bei ihr seltsame Träume ausgelöst haben. Sie schilderte einen dieser Träume:

Letzte Nacht habe ich von Rafa geträumt. Ich war eine von den Frauen, die er herumkriegen wollte ;) Wir waren auf einem W.E-Konzert, und auf der Bühne standen nur Rafa und ein anderer Mann, der etwas dicklich war und auch eine runde dunkle Brille wie Rafa trug. Dieser Mann schlug dieses synthetische Percussion-Schlagzeug (es war zu albern) - Frauen waren nicht in der Band. Die Musik ging los - "Deine Augen". Rafa wollte anfangen zu singen, aber er brachte nur komische Laute heraus und hatte ganz offensichtlich den Text vergessen. Die Musik fing noch einmal an - wieder dasselbe. Dann sagte Rafa, daß er keine Lust mehr hätte und der Auftritt jetzt zuende sei. Dann habe ich mich mit ihm unterhalten und versucht, ihm zu erzählen, daß seine Lebensweise nicht gesund für ihn sei und was er denn besser machen könnte. Er zeigte sich erstaunlicherweise einsichtig und sehr gewillt, etwas zu ändern.

Inzwischen hat Platinum ihr Bett wieder in die vorherige Position gestellt und den Stein vom Hals genommen. Ich mailte:

Und, hast du jetzt weniger wirre Träume, seit du das Bett wieder umgestellt und den Goldorthoklas-Stein abgenommen hast? Dein Traum von Rafa war ja wirklich schräg. Du hast ihn ja sogar mit deinen Ratschlägen erreicht. Ja, wenn er sich mal in der Wirklichkeit etwas raten lassen würde ...

Auch Platinum, Azura, Sylvain, Berit, Isis, Evan, Mika und Carl gefallen die Comics von Sulo, der Sondermülltonne. Carl gefällt daran, daß man in diesen Comics die Geschichte "Im Netz" in Kurzfassung lesen kann, wenn man für den gesamten Roman "Im Netz" keine Zeit hat.
Ende April aß ich mit Saara im "Rondo" zu Abend. Saara erinnerte sich daran, wie sie Rafa vor elf Jahren im "Exil" zum ersten Mal begegnete. Sie stand mit einem Mädchen namens Amy an einem Tischchen im Eingangsbereich des "Exil". Rafa erschien. Er begrüßte Amy im Vorübergehen, schaute Saara jedoch nicht an.
"Das ist der von W.E", erklärte Amy.
Amy mußte wegen eines Herzfehlers besonders auf ihre Gesundheit achten, tat dies aber nicht; sie rauchte und nahm Drogen. Sie war Ende zwanzig, als sie starb.
Mit Azura unterhielt ich mich in E-Mails über Weihnachten. Nach Weihnachten ist vor Weihnachten, wenn es nach der Weihnachts-Industrie geht. Ich schrieb:

Das Weihnachtsfest holt einen immer wieder ein, obwohl Ostern schon vorbei ist. Kürzlich habe ich eine Doku gesehen, da haben Zuckerbäcker und Ingenieure einer Universität versucht, ein begehbares Lebkuchenhaus zu bauen. Da der Baustoff Lebkuchen dem deutschen Wetter nicht standhält, wurde das Haus in einer Halle aufgebaut. Die Wände waren im Fachwerksystem gebaut, mit hölzernem Gerüst und Fachungen aus Lebkuchen. Das Dach war ein Tonnendach, denn ein Spitzdach könnte man nicht als frei tragende Konstruktion aus Lebkuchen anfertigen. Die Fenster bestanden aus durchsichtigen, hoch zerbrechlichen Zuckerplatten, von einem Zuckerbäcker gefertigt, der als einer von wenigen ein Verfahren beherrscht, so etwas herzustellen. Als Mörtel wurde Zuckerguß verwendet, der so schnell abbindet, daß die Konstrukteure sich beeilen mußten beim Zusammenbauen. Als Pflaster um das Haus herum dienten extra harte runde Lebkuchen. Als das Werk glücklich vollendet war, schickte man eine Horde Grundschüler in das Haus, die durften davon essen, so viel sie wollten. Was übrigblieb, wurde für einen guten Zweck versteigert.
Eine andere Doku handelt von einem Weihnachtsfreak, der sein Haus zum "Weihnachtshaus" ernannt hat und irrsinnig dekoriert. Der Besitzer ist ein Handwerker, der sich voller Begeisterung ab September in die Arbeit stürzt und die Dekorationen anbringt. Der Aufwand kostet zwei Monate.

Azura erzählte von einem Haus in Nordamerika, von dem es im Internet ein Video gibt:

Dieses Haus ist eigentlich nur eine große Lichtorgel. Der große Tannenbaum vor dem Haus, eine Armada von lauter kleinen, der Zaun, das Dach, die Front, alles hat so Laufzeilen und beleuchtete Areale oder Symbole wie Peace-Zeichen, die im Rhythmus der Musik aufleuchten oder woran Lichter entlanglaufen. Da der Typ im Video das Stück "Wizards of Winter" vom Transsibirischen Orchester gewählt hat (eine Art Epos mit rasanten Gitarren- und Orgelpassagen), kannst Du Dir vorstellen, daß das Haus ganz schön hektisch blinkt und funzelt, und ich denke mir echt nur:
"Na, dann fröhliche Weihnachten ..."

Am Samstag fuhren Constri und ich nach Ht. Wir frühstückten bei Ted. Er berichtete, daß die Wohnung über ihm - eine schöne Penthouse-Wohnung, in der früher Blanca mit ihrer Mutter gelebt hat - demnächst frei wird. Ted möchte dort einziehen und in seiner jetzigen Wohnung sein Büro einrichten. Blanca, Ted, Constri und ich fuhren zu Teds Fabrikhalle und machten dort Videoaufnahmen. Eigentlich hatten wir vorgehabt, in den letzten Überresten der Stahlhütte zu filmen, doch es regnete Bindfäden.
Blancas Freund Andres kam im Laufe des Nachmittags zu uns in die Fabrikhalle. Er ist Experte für Arbeitssicherheit und beschäftigte sich damit, die Halle auf Sicherheitsmängel zu untersuchen. Ich war es letztlich, die einen Sicherheitsmangel entdeckte. Die Bedienung für den Kran, der unter der Hallendecke bewegt werden kann, hängt an dünnen Drahtseilen, die verhindern, daß die Kabel durch das Gewicht überlastet werden. Beide Halteseile waren in unterschiedlichen Höhen gerissen, und sie hielten nur noch durch kleine Metallklemmen und guten Willen.
Ted posierte mit einem Gabelstapler und machte Selbstauslöser-Fotos. Constri schickte Blanca und Ted auf einen Stapel Stahlplatten und ließ die beiden vor einer Fensterwand in meditativer Weise tanzen. Dann filmte sie hin- und herschwingende Ketten, mit denen Coils und die zwei Tonnen schweren "Stahlpäckchen" gehalten und am Kran durch die Halle getragen werden. Dann veranstalteten wir eine Art Ringelreihen; von Seifenblasen umschwebt, liefen Blanca, Ted, Constri und ich mit den Ketten in den Händen im Kreis.
"Wir sind so herrlich uncool", meinte ich.
Gegen Abend aßen wir in dem rustikalen amerikanischen Diner im alten Bahnhofsgebäude. Das gemeinsame Essen ist ein geliebtes Ritual an unseren Drehtagen.
"Nach Ht. fahre ich auch deshalb so gerne, weil das immer mit kreativen Aktionen verbunden ist", meinte Constri. "Zu Folter fahre ich auch gerne, aber da vermisse ich die Action. Folter jammert lieber, als daß er sich Aktionen ausdenkt."
Anfang Mai trafen Highscore, Magdalena und ich uns im "Ausspann". Magdalena erzählte von dem Ende ihrer Beziehung mit Sam. Sam habe weder sein Leben noch seine Finanzen im Griff. Er habe Magdalena häufig beschwindelt, nicht zuletzt, was das gemeinsame Haushaltsgeld betraf. Über Sams unrühmliche Vergangenheit wisse sie auch erst seit Kurzem bescheid.
"Ja, der hat mal gesiebte Luft geatmet", wußte Highscore. "Und er hatte mit Drogen zu tun ..."
Highscore und Magdalena unterhielten sich über ihre Jobs als Thekenkraft. Highscore hat eine Zeitlang im "Keller" gearbeitet, zusätzlich zu seiner Arbeit in der Fabrik. Damals verdiente er viel Geld, hatte aber keine Zeit, um es auszugeben. Magdalena jobbt kurz vor ihrem Abitur als Thekenkraft, um ihr Taschengeld zu verdienen. Seit sie nach der Trennung von Sam wieder bei ihren Eltern lebt, hat sich ihre Finanzlage entspannt.
"Frauen kriegen immer mehr Trinkgeld als Männer", klagte Highscore.
"Weil sie die beiden entscheidenden Argumente haben", erklärte Magdalena und zeigte auf ihre Oberweite.
Tags darauf trafen Tyra und ich uns im "Departure". Tyra erzählte, daß Ceno heute Geburtstag hatte. Ich schickte ihm eine Geburtstags-SMS.
Tyra und ich setzten unsere Planungen für die Foto-Lovestory fort. Sie heißt "Heiligabend" und bezieht sich zum Teil auf die Weihnachtsfeier im "Keller" im letzten Winter.
"Rafa haßerfüllt, mit schwarzer Weihnachtsmütze", erinnerte ich mich.
"Ein so dunkles Weihnachten hatte Rafa noch nie", erzählte Tyra. "Als Rafa mit Darienne noch nicht zusammen war, war Weihnachten für ihn etwas Positives. Weihnachten war ihm immer sehr wichtig. Er ist dann mit seiner Mutter und seinem Bruder in die Kirche gegangen, und die haben danach noch lange mit dem Pastor geredet. Sie waren die Letzten, die aus der Kirche gingen. Und danach gingen sie noch auf den Friedhof zum Vater und dann nach Hause. Das war richtig feierlich. Das war Rafa immer sehr wichtig. Diese Haß-Attitüde zu Weihnachten hat er erst, seit Darienne im Spiel ist. Wahrscheinlich verstärkt Darienne seinen Haß noch, durch den Haß, den sie selbst in sich trägt."
Rafa soll immer gut von Weihnachten und seinen Kindheitserinnerungen an Weihnachten gesprochen haben. Zu einem Weihnachtsfest in seiner Kindheit habe er Hamster bekommen. Weihnachten sei für ihn immer schön gewesen, nur nicht in dem Jahr, als sein Vater starb.
Tyra erzählte, Rafa habe seine erste Panikattacke im Juni des vergangenen Jahres erlitten, die zweite im November. Die dritte und bisher schwerste Panikattacke habe er Ende Januar dieses Jahres erlitten.
"Der Haß tut Rafa gar nicht gut", meinte ich.
Tyra sieht sich von Lucy verraten, weil Lucy zu W.E zurückgekehrt ist, anstatt mit Tyra ein musikalisches Projekt aufzubauen.
"Du bist durch deine Erlebnisse mit Rafa viel stärker belastet als Lucy", gab ich zu bedenken. "Du hattest weit mehr Gründe als Lucy, W.E den Rücken zu kehren. Lucy ist von Rafa viel weniger angegriffen worden als du."
Ich setzte hinzu, daß Rafa nichtsdestoweniger all seine manipulativen Fähigkeiten eingesetzt haben dürfte, um Lucy Tyra zu entreißen und wieder an W.E zu binden. Auf diese Weise konnte Rafa sich wenigstens zu einem Teil schadlos halten. Rafa ist ein schlechter Verlierer.
"Wenn ihm die Felle wegschwimmen, ist ihm Lucy gut genug", meinte Tyra. "Vor mir hat er so oft über Lucy gelästert. Er hat immer wieder gesagt, sie ist häßlich und kann nicht singen. Als ich ihm gesagt habe, daß ich es nicht in Ordnung finde, daß er so hinter ihrem Rücken redet, und ihn gefragt habe, warum er Lucy überhaupt in der Band hat, wenn er sie so häßlich findet, hat er gemeint, er habe das alles nur auf ein bestimmtes Foto bezogen."
Als wenn Fotos Töne von sich geben könnten ...
Ohnehin sei Rafas Erklärung mit Sicherheit gelogen, ergänzte Tyra. Rafa habe auch schon vor der Entstehung jenes Fotos heftig über Lucy gelästert.
Tyra hat sich per SMS mit Lucy über deren Wiedereinstieg bei der Band W.E unterhalten. Tyra schrieb über ein Foto, das Lucy und Darienne lächelnd und Wange an Wange zeigt:
"Na, Best Friends mit Plastik?"
Statt einer Antwort leitete Lucy die SMS an Rafa weiter. Er meldete sich telefonisch bei Tyra und zischte:
"Was schreibst denn du an Lucy für SMS?"
"Ich schreibe die Wahrheit", erwiderte Tyra.
Rafa schaltete um in einen anderen Modus. Er schmeichelte Tyra und klagte, er vermisse sie so sehr - und ob sie nicht zu ihm hinüberkommen wolle?
Tyra entgegnete, sie kümmere sich gerade um ihre Mutter, die eine Fehlgeburt erlitten hatte. Rafa fragte, ob er bei Tyra vorbeikommen dürfe.
"Nein", erwiderte sie, "hier kann ich dich jetzt nicht 'reinlassen. Aber ich gehe gerne mal wieder mit dir spazieren."
Rafa spielte Tyra ein W.E-Lied vor, das er eben fertiggestellt hatte. In dem Text geht es um den Versuch, durch Selbstzerstörung die gestörte Realitätswahrnehmung wiederherzustellen und letztlich vor der Realität zu fliehen. Unter anderem heißt es in dem Text:

Kneif mich! Ich will dich spüren!
Denn meine Welt ist nicht real.
Schlag mit der Faust in mein Gesicht!
Ich will es spüren ... kneif mich!

Kneif mich! Verdammt noch mal!
Hau mir die Axt in meinen Schädel rein!
Das ist hier alles nicht real.
Ich will es spüren ... kneif mich!

Kneif mich! Zum letzen Mal!
In meiner Welt ist nichts real.
Halte mich fest und schrei mich an!
Ich will es hören ... Kneif mich!

Kneif mich! Wie oft denn noch?
Befreie mich aus dem System!
So schieße in meinen Kopf!
Ich will nur raus ... kneif mich!

Der Text hört sich nach einem gewissen Leidensdruck an. Doch wie groß Rafas Leidensdruck auch sein mag, nie hat er dazu geführt, daß Rafa sein Verhalten und seine Ansichten in Frage gestellt hat und Kritik zugelassen hat. Rafa verharrt in seiner Ichbezogenheit und seiner geringen Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen.
Tyra erzählte von ihrem Beziehungsalltag mit Rafa, der stets parallel lief mit dem Alltag in Rafas sonstigen Beziehungen. Des Öfteren habe sie mit Rafa lange Spaziergänge gemacht. Er habe allerdings nur im Sommer Lust dazu. Einmal seien sie sechs Stunden unterwegs gewesen. In Discotheken gehe Rafa nicht gern. Ich setzte hinzu, daß Rafa früher häufig in Discotheken gewesen ist. Seit dem Beginn seiner Beziehung mit Berenice sei er jedoch immer seltener ausgegangen, inzwischen gehe er fast gar nicht mehr aus.
Ich erkundigte mich nach Rafas Abendprogramm: Montagabende mit Anwar, Spieleabende, Herrenabende. Tyra erzählte, daß auch diese abendlichen Treffen kaum noch stattfinden. Auch daß alte Freunde wie Ivco abends einfach mal bei Rafa vorbeischauten, habe es schon lange nicht mehr gegeben.
Ich erinnerte Tyra an den vergangenen Oktober, als sie und ich mit Lucy, Rafa und anderen Leuten im "Zone" in einer großen Runde saßen. Auch Len war dabei. Ich erzählte Tyra, daß Len den Eindruck hatte, Lucy schaue ein wenig auf andere Menschen herab. Tyra bestätigte diesen Eindruck. Sie setzte hinzu, Lucy zeige sich vor allem dann überheblich, wenn sie eine Bühne zur Verfügung habe. In ihrer Eigenschaft als Bandmitglied fühle Lucy sich als Star. Tyra vermutete, Lucy habe deshalb so sehr den Wunsch, besonders wichtig zu sein, weil sie eine belastete Kindheit hatte, mit einem alkoholkranken und gewalttätigen Vater. Lucy sei nicht nur das Opfer von Mißhandlungen, sondern auch das Opfer von Mißbrauch geworden.
Im Gegensatz zu Lucy neigt Tyra dazu, sich selbst als besonders unwichtig darzustellen. Sie erzählte, während ihrer Zeit bei W.E sei es ihr unangenehm gewesen, Autogramme zu geben. Sie habe es nur getan, weil Rafa es von ihr verlangt habe.
Tyra erzählte, Lucy habe sich von ihrem Freund getrennt, lebe aber noch mit ihm in derselben Wohnung. Er ziehe erst im Juni aus. Tyra meinte, die Mitarbeit bei W.E sei für Lucy vielleicht eine Fluchtmöglichkeit aus ihrem konfliktbelasteten Alltag.
Tyra erzählte aus der Anfangsphase ihrer Beziehung mit Rafa vor drei Jahren. Er habe damals immer wieder betont, wie sehr er es hasse, wenn jemand lüge. Er habe behauptet, es gebe kaum etwas, das er so sehr hasse wie Lügen. Ich frage mich, ob Rafa wirklich nicht merkt, wie er es selbst mit der Wahrheit hält, oder ob er durch seine Behauptungen nur davon ablenken will, wie oft er selbst die Unwahrheit sagt. Seit mehr als fünfzehn Jahren belügt und betrügt Rafa seine Freundinnen - gewohnheitsmäßig, nicht in Form gelegentlicher "Ausrutscher". Und er weigert sich erklärtermaßen, seine Promiskuität offen auszuleben:
"It's not my style."
Tyra erzählte, sie habe schon öfter zu Rafa gesagt, daß sie leidet, wenn er erst mit ihr ins Bett geht und danach mit Darienne. Er habe stets ausweichend reagiert und sich seiner Verantwortung nicht gestellt.
Tyra zögert, Rafa gegenüber bestimmter aufzutreten und von ihm zu fordern, daß er seiner Verantwortung ins Gesicht sieht. Sie befürchtet, daß es Rafa dadurch schlechter gehen könnte.
"Da muß er durch", meinte ich. "Sonst verändert sich für ihn auch nichts zum Besseren."
Tyra und ich unterhielten uns über das Selbstbewußtsein. Ich erzählte, daß mein Selbstbewußtsein zugenommen hat, seit ich Rafa kenne.
"An meiner Aufgabe bin ich gewachsen", meinte ich.
"Du betrachtest das Verhältnis mit Rafa als Aufgabe", sagte Tyra. "Ich habe darin nur meine zukünftige Ehe gesehen. Mich hat es nur 'runtergezogen, mein Selbstbewußtsein ist immer kleiner geworden."
Tyra fragte mich, warum sie so verletzlich sei. Ich riet ihr, drei Dinge aus ihrer Kindheit zu nennen, die ihr zufällig einfielen. Als Erstes erinnerte sich Tyra, wie sie ihre weinende Mutter in den Armen hielt und tröstete. Als Tyra ein Kind war, war ihre Mutter häufig mit Depressionen beschäftigt. Als Zweites erinnerte sich Tyra, daß sie oft wütend war, wenn ihrer jüngeren Halbschwester Lani mehr Aufmerksamkeit zuteil wurde als ihr selbst. Als Drittes erinnerte sich Tyra, wie sie mit Lani zankte und es dabei zu einem Unfall kam. Tyra machte sich dafür allein verantwortlich, auch die Mutter und Lanis Vater machten Tyra als "die Große" allein dafür verantwortlich.
"Das erklärt es doch schon", meinte ich. "Deine Mutter hat dich als Mutter verwendet und dich nicht Kind sein lassen. Du konntest nirgends wirkliche Geborgenheit finden. Du hast viel zu früh Verantwortung tragen müssen. Und du hast immer mit Selbstvorwürfen gelebt. Du hast immer gedacht, wenn du nicht alles ganz akkurat machst, bist du weniger wert."
"So schnell kommt man also auf den Punkt", stellte Tyra fest.
"Und das ist der Punkt", meinte ich. "Da bist du angreifbar."
Tyra erzählte, sie habe schon mehrmals einen seltsamen Traum gehabt, den sie nie habe deuten können:

In dem Traum sah Tyra ihre Halbschwester Lani auf einem Pegasus heranfliegen. Tyra stand unten mit ihrer Mutter und Lanis Vater. Kaum war Lani bei ihnen angekommen, mußte Tyra auf dem Pegasus weiterfliegen. Sie hatte die Aufgabe, sich um die Pilzmännchen im Wolkenland zu kümmern. Diese Aufgabe machte ihr Freude, doch sie hatte Sehnsucht nach ihrer Familie. Ihre Familie war nie vollständig beisammen, denn immer mußte einer mit dem Pegasus hinauf zu den Pilzmännchen.

"Wenn man einen Traum mehrmals hat, hat er immer eine wichtige Bedeutung", meinte ich.
Ich deutete den Traum als eine Art Familienbild. Der Traum handele von Tyras sozialen Fähigkeiten und beruflichen Begabungen und von ihrer Sehnsucht nach Geborgenheit in der Familie.
Während ihrer Beziehung mit Rafa hatte Tyra einen anderen wiederkehrenden Traum. Es war ein bedrohlicher Traum:

In dem Traum wurde Tyra andauernd von etwas Unsichtbarem verfolgt. Sie konnte hohe Luftsprünge machen, um zu fliehen. Doch je höher sie sprang, desto härter war auch der Aufschlag, wenn sie wieder zur Erde kam.

"Gibt es irgendetwas, das dich wirklich bedroht?" fragte ich.
"Ich habe oft Verlustängste", gab Tyra zur Antwort.
"Verlustängste sind ein Fehlen von etwas, eine Sehnsucht", meinte ich. "Die sind ja nicht im engeren Sinne eine Bedrohung."
"Das stimmt, das sind sie nicht."
"Was könnte es dann sein? Ein Mensch? Eine Situation? Vielleicht sind es deine Selbstvorwürfe, die dich ständig verfolgen? Die verfolgen dich ja wirklich dauernd. Wohin du auch gehst, wo du auch stehst, immer machst du dir Selbstvorwürfe."
Tyra erinnerte sich an unser Gespräch mit Joujou im April, als Tyra und ich bei Joujou und ihrer Familie zu Besuch waren. Im Verlaufe dieses Gesprächs war Tyra reichlich wütend auf Rafa geworden. Nach dem Gespräch jedoch fühlte sich Tyra immer elender. Sie machte sich Vorwürfe, weil sie Wut auf Rafa empfunden hatte. Diese Wut deutete sie als Verrat, als Illoyalität. Der Anlaß für Tyras Wut rückte weit in den Hintergrund. Für Tyra ging es nicht mehr um die Frage, weshalb sie auf Rafa wütend geworden war. Für Tyra ging es nur noch darum, daß sie wütend geworden war. Den Grund für ihre Wut blendete sie weitgehend aus. Sie nahm Rafa aus der Verantwortung und sah nur noch sich selbst in der Verantwortung. Sie hatte ein schlechtes Gefühl - das Gefühl, schlecht zu sein.
"Wenn ich bei Rafa bin, habe ich dieses schlechte Gefühl nicht", erzählte Tyra. "Das habe ich nur, wenn ich mich im Nachhinein über ihn aufrege."
"Rafa breitet ja auch über die gesamten Konflikte immer das saubere Tischtuch", meinte ich. "Der deckelt ja alles. Der übermalt ja alles mit einer Fassade. Erst nachher spürst du wieder, was er dir antut. Das kommt dann alles hoch. Für dich geht es darum, zu lernen, damit umzugehen."
"Warum kann ich das nicht einfach so beiseiteschieben und vergessen und ignorieren?" fragte Tyra. "Warum kann ich Rafa nicht einfach aus meinem Leben verbannen?"
"Weil dein Kernproblem nicht Rafa ist", deutete ich. "Dein Kernproblem liegt in deinen ersten Lebensjahren. Und Rafa liefert dir eine Möglichkeit, es beispielhaft an ihm aufzuarbeiten. Für viele Menschen bildet Rafa eine solche Figur. Er ist eine Musterfigur, eine Beispielfigur für vergangene Konflikte."
Tyra fragte, wie sie ihren Selbstvorwürfen beikommen könnte. Ich empfahl ihr, den von ihr gewünschten Nullwert festzulegen und die Abweichung zum verstellten, unerwünschten Nullwert wegzurechnen. Ihre ständig vorhandenen Selbstvorwürfe kann sie als Störgröße für den neu definierten Nullwert zugrundelegen und wegrechnen, um den bereinigten Nullwert zu erhalten. Dies bedeutet: Weil Tyra sich ständig grundlos Selbstvorwürfe macht, sind diese als dauernd vorhandene Störung des Wohlbefindens zu betrachten, und es ist müßig, darüber nachzudenken. Es geht nicht darum, gegen die fest programmierten Selbstvorwürfe anzukämpfen und sich mit ihnen zu beschäftigen. Es geht darum, die Selbstvorwürfe als unwesentlich einzustufen, als zu vernachlässigendes Phänomen, dem keine richtungsweisende Bedeutung zugebilligt werden soll. Das Ziel ist, sich nicht von sinnlosen Selbstvorwürfen behindern zu lassen.
"Das ist eine Übungssache", meinte ich. "Das kann man lernen. Man muß sich bewußt machen, daß die Selbstzweifel fast samt und sonders unbegründet sind. Es geht darum, nur die Selbstzweifel übrigzulassen, die man tatsächlich haben müßte. Und die sind in der Regel verschwindend gering. Man muß also immer beim Bewerten einer Situation oder des eigenen Verhaltens den systematischen Fehler wegrechnen. Dann bekommt man ein einigermaßen realistisches Bild."
Tyra entwickelte den Text für die Foto-Lovestory. Sie diktierte, ich schrieb. Tyra war voller Ideen, so daß wir schnell vorwärtskamen. In der Foto-Lovestory geht es vor allem um Rafas Verhältnis zur Wahrheit. Tyra erzählte, daß Rafa anderen Menschen gerne Lügengeschichten erzählt, um ihnen Geheimnisse zu entlocken. Er tut das zielgerichtet. Wenn Rafa glaubt, jemand verschweige etwas Bestimmtes vor ihm, erzählt er ihm eine dazu passende erfundene Geschichte, in der Hoffnung, daß das Gegenüber darauf hereinfällt und das Gewünschte offenbart. Rafa bringt auf diese Weise andere Menschen dazu, die Wahrheit zu sagen, während er selbst lügt.
Rafa lügt besonders häufig, wenn es um seine Liebschaften geht. Tyra gegenüber hat Rafa lange geleugnet, daß er mit Darienne ein Verhältnis hat. Tyra erkundigte sich bei mir, ob Rafa Darienne inzwischen öffentlich als seine Freundin bezeichnet.
"Ja, er verkauft sie als seine Freundin", wußte ich. "Als Isis ihn gefragt hat:
'Na, ist das deine neue Püppi?'
- hat er geantwortet:
'Ja, das ist meine Neue, das ist Dari.'"
"Jetzt ist das Gefühl wieder da", stellt Tyra fest. "Jetzt ist es wieder da."
"Gut, dann schreiben wir das gleich auf."
Wir bauten die Handlung der Foto-Lovestory nach Tyras ungutem Gefühl auf, dem Gefühl, schlecht zu sein. Schließlich sagte Tyra, sie stehe kurz vor einem Weinkrampf.
"Es ist wichtig, dem Gefühl nachzugehen und es zu nehmen als etwas, das einem in den Weg gelegt wird, um damit zu arbeiten", meinte ich. "Es ist etwas, das man kreativ umformen kann - entsprechend dem therapeutischen Leitsatz:
'Wo die Angst ist, ist der Weg.'
Rafa beschäftigt dich dauernd, er ist immer in deinen Gedanken. Du kannst das Gefühl nicht einfach beiseitelegen. Also ist es etwas, das du bearbeiten solltest. Man kann sich an dem Gefühl entlangarbeiten und es allmählich in den Griff kriegen. Man sollte sich schrittweise annähern, dann kommt man der Sache wirklich nahe."
"Und sich selbst kommt man nahe", setzte Tyra hinzu.
Wir unterhielten uns über unsere beruflichen Planungen. Schon als Kinder wollten wir Berufe ergreifen, in denen wir anderen helfen konnten. Ich erzählte, daß ich mir als Kind Notizen gemacht habe, um ein sachliches Bild von meiner Lebenswirklichkeit zu erhalten. Dadurch schaffte ich es, mir selbst zu helfen. Tyra fragte:
"Warst du eigentlich auch mal Kind?"
"Nein, das war ich nicht."
"Ich nämlich auch nicht."
Ich betonte, daß es sehr hilfreich sei, die eigenen Gedanken aufzuschreiben, dadurch lasse sich sowohl das Chaos in den Gedanken als auch das Chaos im Leben ordnen.
"Außerdem: das, was man schreibt, wirkt von sich aus", setzte ich hinzu. "Wenn ich etwas geschrieben habe, dann hat das eine Wirkung von sich aus. Wenn ich ein bestimmtes Gefühl habe, kann ich etwas Bestimmtes lesen, das ich geschrieben habe und das genau dazu paßt."
Tyra erzählte von ihrem Freund Gilbert. Er sei sehr besitzergreifend. Er lehne es ab, mit ihr auszugehen und wolle sie auch davon abhalten, ohne ihn auszugehen. Er vermeide es, sie mit seinen Freunden bekannt zu machen. Tyra überlegt, sich von Gilbert zu trennen.
Zwei Tage später hatte ich den folgenden Traum:

In einem Bistro, das dem rustikalen amerikanischen Diner im ehemaligen Bahnhof von Ht. ähnelte, verbrachte ich meine Mittagspause. Rafa und Darienne kamen herein. Als Darienne sich vorübergehend entfernte, ging ich auf Rafa zu und umarmte ihn. Rafa zeigte sich irritiert. Ich ließ mich nicht beirren. Rafa entschied sich, meine Umarmung zuzulassen. Als Darienne zurückkam, umarmte ich sie ebenfalls.
"He, was soll denn das jetzt?" fragte sie halb abweisend, halb verunsichert.
Ich schaute sie an und umarmte sie noch einmal. Sie nahm das zur Kenntnis und ging schließlich fort. Nun stand ich mit Rafa allein in dem Bistro. Ich umarmte ihn noch einmal.
"Was soll das?" fragte er.
"Ich liebe dich", entgegnete ich. "Deshalb umarme ich dich."
Ein Hausarzt aus SHG. erschien, ein "alter Hase", der mich an meinen Kollegen Hennig aus Kingston erinnerte. Er fragte mich, wie es mir ging und was ich so machte.
"Mir geht es gut", antwortete ich und zeigte auf Rafa. "Ich liebe ihn. Er glaubt mir das nicht so richtig und will auch nicht so richtig eine Beziehung, aber so ist das eben. Und dann wollen wir mal sehen, was sich so ergibt."
Rafa war reglos stehengeblieben, in einer Türzarge. Ich wandte mich wieder Rafa zu und küßte ihn auf den Mund. Rafa ging darauf ein, und wir küßten uns ausführlich. Ich streichelte seine Schultern und seine Arme und nahm mir Zeit. All die Innigkeit, die zwischen uns schon sichtbar und fühlbar gewesen ist, hier war sie wieder zum Vorschein gekommen. Rafa und ich unterhielten uns sehr lange, doch von diesem Gespräch konnte ich mir nichts merken. Schließlich sagte Rafa leise und wie von weither:
"Ja gut dann, wir sehen uns dann, ne ..."
Als würde er von unsichtbaren Fäden gezogen, ging er langsam aus dem Bistro, in die Richtung, in die Darienne verschwunden war. Ich bestellte mir "Reentry"-Pommes als Mittagessen, das waren Pommes frites wie in der Party-Location "Reentry", ein Sonderangebot. Mein Kollege Rainy aus der Reha-Klinik gesellte sich zu mir. Rainy schaut immer drein wie sieben Wochen Regenwetter. Schlechte Laune ist sein Markenzeichen, Lausbubenmanieren sind für ihn Ehrensache, doch bei Tisch ist er durchaus nett und unterhaltsam. Wir aßen in aller Ruhe miteinander.
Im Nachhinein fiel mir auf, daß Rafa während meiner Begegnung mit ihm keine Zigarette geraucht hatte. Das ist für einen Kettenraucher wie ihn sehr ungewöhnlich.

Mit Berenice unterhielt ich mich in E-Mails über einen Reklame-Flyer, den Rafa online gestellt hat. Mit diesem Flyer wirbt Rafa für einen W.E-Auftritt im "Mute". Auf dem Flyer ist eine blonde Frau mit naiv-andächtigem Blick abgebildet, die Kopfhörer trägt. Ihre Augen sind violett, die Lippen grellrot, der Pullover ist rosa. In einer Sprechblase steht:

Ich höre Musik, ich habe Gehirn, ich gehe am Fr. 01.09.2006 ins "Mute" in H. ... und ich bin trotzdem eine Frau!*

Unten rechts steht:

*Wie geht das?

Angesichts dieses Flyers frage ich mich, ob Rafa herausfinden will, wie weit er gehen kann, ohne daß sich seine Fans von ihm abwenden. Vielleicht glaubt er, daß seine Fans den Flyer witzig finden und ihm jede Entgleisung verzeihen. Jedenfalls ist der Flyer ein geeigneter Test, um herauszufinden, wie ergeben seine Fans sind. Um einen Mangel an Feinden braucht sich Rafa jedenfalls keine Sorgen zu machen; an der Abneigung der Leute, die ihn bisher schon nicht leiden konnten, wird sich durch den Flyer nichts ändern.
Was die Sängerinnen betrifft - Darienne und Lucy -, so bin ich überzeugt, daß sie unterwürfig genug sind, um jeden noch so geschmacklosen Flyer in irgendeiner Weise zu rechtfertigen und damit auch ihre Rolle bei W.E zu rechtfertigen.
Mit Berenice unterhielt ich mich über die "Gnade", für Rafa arbeiten zu dürfen. Berenice schrieb:

Rafa versucht, das den Leuten einzutrichtern:
"Du kannst stolz sein, bei W.E dabei sein zu dürfen."
Darüber haben wir uns früher immer schon gestritten - denn für mich war das nichts Tolles. Ich hatte immer das Gefühl, ich sollte ihm dankbar sein, aber wofür??? Ich leiste ja auch was. Aber dann habe ich im Laufe der Zeit diese Masche so oft bei ihm erleben dürfen anderen Menschen gegenüber:
"Es ist etwas ganz Besonderes, das und das für mich tun zu dürfen."
- dass ich einfach nur noch lachen musste. Ich habe diese Leute dann immer beobachtet, ob sie verstehen, was er da für einen Weg geht - haben sie aber selten. Die meisten fühlten sich geschmeichelt, geehrt ("Ich gehöre jetzt dazu.").

Über Lucy schrieb Berenice:

Als Kitty damals ging, brauchten wir Ersatz. Ich hatte noch schwarze Haare, und Lucy, die mit mir einen Kurs in der Uni besuchte, war die Einzige weit und breit, die mir auch nur im Entferntesten ähnelte, so habe ich sie angesprochen. Rafa und Dolf lernten sie erst kennen, als ich sie mit nach HF. brachte, wo wir alle zusammen ein Konzert hatten - Lucy und ich haben aber natürlich fleißig vorher geübt. Jedenfalls war Rafa so sauer auf mich, dass ich eine dermaßen "hässliche" Frau mitgebracht habe! Ich fand Lucy sehr nett und engagiert und habe mit dieser Reaktion nicht gerechnet! Aber es stimmt, was Tyra berichtete: Rafa war von der ersten Sekunde an gegen Lucy, deren Aussehen für ihn die Hölle war und ist. Sobald wir Ersatz gefunden hätten, wäre Lucy draußen gewesen - das war der Plan. Aber Rafa hat nie eine andere gefunden ... Darum ist sie ja auch jetzt bei Konzerten dabei.
Ich habe Lucy übrigens auf dem Fanclub-Treffen im vergangenen Jahr die Wahrheit gesagt: dass Rafa sie "hässlich" findet, dass ich -zigfach Ärger bekommen habe wegen ihr und dass Rafa nichts von ihren gesanglichen Fähigkeiten hält. Aber das wusste sie auch so, denn nicht umsonst hört man sie bei "Märchenland" und "Walkman" so gut wie gar nicht ...
Lucy sagt, sie hasst Rafa, sie weiß von allem, und doch ist sie trotz ihres Ausstiegs bei den Konzerten. Dann sagt sie, sie kann mit Darienne nichts anfangen, und dann sehe ich auf dem Konzertmitschnitt, wie sie innigst mit ihr umgeht ...

Ich schrieb:

Was Lucy betrifft: so häßlich finde ich sie nun auch wieder nicht.

Berenice schrieb:

Ich auch nicht. Nur die W.E-Frisur war eben immer unvorteilhaft für sie. Wenn sie süß geschminkt ist und ihre Haare offen trägt, ist sie sehr hübsch!!!

Am Freitag waren Constri und ich im "Mute". Edaín erzählte, daß sie ihre Tochter Maya in der Schule angemeldet hat. Nächstes Jahr kommt Maya zur Schule, mit fünf Jahren. Constri erzählte, daß Denise drei Jahre alt ist, ein Jahr jünger als Maya.
Am Samstag waren Constri und ich bei "Stahlwerk". Heloise und Barnet waren mit ihrer Tochter Felicity da. Barnet erzählte, die fünfzehnjährige Felicity sei in letzter Zeit etwas schwierig. Sie wolle viel Zeit am Computer verbringen und dabei nicht gestört werden.
"Wenn sie mir wenigstens die Typen vorstellen würde, mit denen sie sich mailt", seufzte Barnet, "dann hätte ich ja nichts dagegen. Aber so weiß man ja nie, mit was für Leuten sie Kontakt hat."
"Sie will sich abgrenzen", meinte ich. "Sie wird flügge."
Felicity hat ihr schwarz gefärbtes Haar zum Teil abgeschnitten und trägt es mit strengem Seitenscheitel und Glitzerklemmchen, ein Look, der zur Zeit vor allem bei der jüngeren Generation angesagt ist.
Sirio machte mit seiner Digitalkamera viele Aufnahmen. Constri hatte ihre Videokamera mitgebracht und filmte die meiste Zeit, weil sie Material für Musikvideos sammelte. Zwischendurch nahm ich ihr die Kamera ab und filmte Constri.
Heute waren auch Donar und Sasso bei "Stahlwerk". Sie trugen Military-Look mit Tarnfarben, Sasso hatte sogar eine Gasmaske dabei.
"Das Böse hat eine gewisse Faszination", sagte ich zu ihnen. "Das geht mir auch so, und ich finde, es ist nichts Schlimmes daran, solange man in der Lage ist, Gut und Böse zu unterscheiden."
Donar und Sasso betonten, sie könnten sich hier nach längerer Pause wieder einmal wirklich amüsieren. Donar meinte, er habe gar nicht mehr geglaubt, sich jemals wieder bei "Stahlwerk" amüsieren zu können. Begeistert waren sie vor allem von einem Stück von SPK aus den frühen Achtzigern, atonal und mit einem stolpernden Rhythmus. Sie umhalsten mich und hakten mich unter, einer rechts und einer links, und so bewegten wir uns über die Tanzfläche, auf der sonst fast niemand war, denn diese atonalen Klänge sind auch bei "Stahlwerk" für die meisten Leute ungewohnt.
Sasso gab mir eine Doppel-CD mit selbstgemachter Musik und warnte, Musik im herkömmlichen Sinne dürfe ich nicht erwarten. Donar und er machen seit einiger Zeit Noise, melodielose Sounds, eine Art Weißes Rauschen.
Donar und Sasso berichteten, daß Uli R. seinen legendären Musikladen in HH. geschlossen hat. Dort gab es vor allem Raritäten zu kaufen und eigene Erzeugnisse wie die Reden von "Dr. Kurt Euler" und die Gesänge der "Liedertafel Margot Honecker" - grelle Parodien auf die Propaganda-Kultur der DDR.
"Persönlich habe ich Uli R. nie kennengelernt", erzählte ich, "ich kannte ihn nur als Legende, als Fossil der Industrial-Welt, als verschrobenes Unikat."
"Das ist er auch", bestätigten Donar und Sasso.
"Und nach dem, was ich über ihn gehört habe, läßt er sich bei seinen Entscheidungen nicht dreinreden", setzte ich hinzu. "Also wäre der Versuch sinnlos gewesen, ihn daran zu hindern, seinen Laden zu schließen."
Am Sonntag meldete Sasso sich per SMS als "sondermülldeponie 927" und lobte die gestrige Party. Wir unterhielten uns über Musik, die keine ist, über Industrial und Weltpolitik.
Tyra berichtete am Telefon, sie habe Rafa und Sten miteinander in SHG. gesehen. Einträchtig sollen sie nebeneinander gesessen haben. Tyra war gerade damit beschäftigt, Flyer für Stens neues Filmprojekt zu verteilen. Sie ging nicht zu Rafa und Sten, sondern tat so, als hätte sie die beiden nicht gesehen.
Am Mittwoch war ich zum Essen im "Rondo" mit Sylvie, der besten Freundin des Travestie-Künstlers Carla. Sylvie erzählte, daß sie Sekretärin ist und mit ihrem Mann, ihren erwachsenen Söhnen und ihrer siebzehnjährigen Tochter in einer Terrassenwohnung lebt. Der Ehemann ist viel auf Montage. Zu Weihnachten bekam Sylvie von ihrer Tochter Zugkarten geschenkt, um Carla in HH. besuchen zu können. Alle Familienmitglieder wollten Heiligabend außerhalb der Familie verbringen, und auch für Sylvie sollte gesorgt sein. Also fuhr Sylvie zu Carla. Die beiden wollten gemütlich Heiligabend feiern. Carla verstand unter "gemütlich" eine rauschende Party, und das wurde auch daraus, bei Carlas Travestie-Kollegen. Für Sylvie war es das schönste Weihnachtsfest ihres Lebens. Der Gastgeber der Party hatte für jeden Gast ein Geschenk, auch für die unangemeldet dazukommende Sylvie zauberte er noch eines.
Carla - eigentlich Karel - hat eine Ehe hinter sich. Er ließ sich vor einem Jahr von seinem Mann scheiden, weil die Beziehung dem Alltag nicht standgehalten hatte. Im Herbst verliebte Carla sich neu, doch zögerte sein Wunschpartner Rico, sich von seinem langjährigen Lebensgefährten zu trennen. Weil Carla so sehr unter Ricos Unentschlossenheit litt, schrieb Sylvie nach Weihnachten eine E-Mail an Rico. Wenig später trennte Rico sich von seinem Freund und ist jetzt mit Carla zusammen.
Sylvie und ich waren abends im "Alcantara", der Travestie-Bühne in H. Dort begann vor zwanzig Jahren die Karriere des Travestie-Künstlers Olivia. Er war damals sechzehn Jahre alt und gehörte zu den Stammgästen der Szene-Discothek "Base". Diese Discothek war nur etwas für Nachtschwärmer und füllte sich erst gegen drei Uhr morgens. Olivia war dort der Blickfang, mit zwei Metern Körperlänge und schillernder Garderobe. Sylvie kennt ihn flüchtig. Sie sieht ihn manchmal im "Alcantara". Er soll sich öfters in H. zeigen, weil seine Verwandtschaft in der Nähe lebt.
Sylvie und ich trafen Carla aka Karel vorm "Alcantara", mit kurzem Irokesenschnitt und einer Hose im Tarnmuster. Er war für die Show bereits feminin geschminkt. Carla begrüßte uns herzlich. Er meinte, ich würde cool aussehen mit meiner Kunsthaar-Zöpfchen-Frisur.
Im "Alcantara" war heute nicht viel Publikum, der Showmaster im Glitzerkleid sorgte jedoch für Stimmung. Carla trat in zwei Kostümen auf, eines im orientalischen Stil, golden und rot, in einem männlichen Look, aber mit zwei hoch angesetzten, bauschigen Kunsthaarzöpfen, die an überdimensionale Blüten erinnerten. Carla ließ das Publikum mitsingen. Über den Refrain zu "The lion sleeps tonight" aus "König der Löwen", der immer wiederholt wurde und den er immer auf die gleiche Art sang, mußte Carla selbst lachen.
Das andere Kostüm war Carlas Alien-Kostüm mit den grünen Lasern. Carla zeigte sich als faszinierende Mischung aus Mann und Frau, Europa und Afrika, Mensch und Alien, Lebewesen und Maschine.
Am Donnerstagabend waren Constri, Denise und ich bei Gesa, die Geburtstag hatte. Gesa erzählte, daß die Katze ihrer Eltern vor Kurzem an Altersschwäche gestorben ist, mit sechzehn Jahren. Auch Sarolyns Kater ist vor Kurzem an Altersschwäche gestorben. Als ich nach Hause kam, hatte mein Kater Bisat ebenfalls das Zeitliche gesegnet, mit neunzehn Jahren. Er war schon monatelang altersschwach gewesen, mit Arthrose und Verwirrtheitszuständen. Ich legte Bisat in dem Karton meines G4-Rechners zur letzten Ruhe und brachte ihn in den Keller. Dann ging ich nach draußen, pflückte blühende Fliederzweige und stellte sie in einer Vase auf den Tisch im Wohnzimmer.
Am Samstagmorgen wurde Bisat beerdigt. Constri, mein Vater und ich fuhren mit dem Sarg zu einem Waldstück auf einem Hügel, das meinem Vater gehört. Der Wald ist ein Landschaftsschutzgebiet. Auf einer Lichtung, wo kleine weiße Blumen blühten und im März die Anemonen blühen, hoben wir die Grube aus. Es regnete die meiste Zeit - "Beerdigungswetter". Auf den G4-Pappkarton legte ich eine Fliederblüte, dann schüttete ich die ausgehobene Erde darüber, so daß ein Grabhügel entstand. Ein Stück von einem Baumstamm kam mit in die Grube. Es ragt als Pfosten aus der Erde, und daran soll ein Gedenkschild befestigt werden, das mit dem Pfosten ein Kreuz bildet. Constri legte Fliederzweige auf den Grabhügel, die wir am Wegesrand gebrochen hatten. Constri machte mit ihrem Handy Fotos von der Beisetzung, und ich machte mit der Spiegelreflexkamera Fotos von dem Grabhügel.
Der Kuckuck rief. Ich dachte an das Lied "Geh aus, mein Herz, und suche Freud", und wie schon vor Jahren fragte ich mich auch heute wieder, weshalb ausgerechnet dieses Sommerlied mich tieftraurig macht, so oft ich es höre oder daran denke. Für mich ist und bleibt es ein Beerdigungslied, und es wird tatsächlich auf Beerdigungen häufig gesungen. Das hängt wahrscheinlich damit zusammen, daß in dem Lied nicht nur die Schönheit der Natur gepriesen wird, sondern umso mehr noch die Schönheit des Paradieses.
Mittags hielten Constri und ich bei mir Leichenschmaus mit Tomaten-Mozzarella-Brötchen und Kuchen. Dazu gab es Milchkaffee.
Nachmittags bekam Elaine von mir das versprochene Ostergeschenk, Ohrlochstechen und kleine glitzernde Ohrstecker. Danach tranken wir Tee bei Merle.
Elaines Freundin Tanee soll angekündigt haben, sie werde Elaine auf eine Party mitnehmen, wo sie weder lachen noch singen dürfe, denn das sei kindisch und damit verboten.
"Dann sind Erwachsene ganz schön kindisch", meinte ich. "Sie ziehen es vor, Spaß zu haben, anstatt cool auszusehen und sich zu langweilen."
Elaine versucht gar nicht erst, cool auszusehen und sich zu langweilen. Sie scheint gegen den Gruppendruck immun zu sein.
"In Tanees Freundeskreis bin ich die Einzige mit Brille", erzählte sie.
"Und wo haben die anderen ihre Brillen?" fragte ich. "Verstecken sie die und laufen als blinder Maulwurf durch die Gegend?"
In Elaines Alter haben Kontaktlinsen noch nicht viel Sinn, weil sich die Sehstärke rasch verändert. Später möchte Elaine vielleicht Kontaktlinsen haben.
Abends war ich bei der Geburtstags-Nachfeier von Siro und Dane, die bei Siro stattfand. Wie gewohnt waren viele Gäste da, etwa fünfzig Leute. Auf der Party erschien ich in Alltagsgarderobe, hellblau und grau, weil ich in Trauer war und kein Party-Outfit tragen wollte. Onno versuchte, mein so gar nicht szenetypisches Outfit mental zu verarbeiten.
"Ein echter Grufti trägt auch Hellblau", versuchte ich diesen Prozeß zu fördern. "Und Rosa und Lila und Grün ... Ein echter Grufti trägt nicht nur Schwarz."
Onno und Endera sind große Katzenfreunde. Ihre Freundin Dayenne erzählte, daß sie Katzen erst richtig kennen- und liebengelernt hat, seit sie in ihrer WG mit Katzen zusammenlebt. Die Beziehung zwischen Mensch und Katze ist etwas Besonderes, Unersetzbares, findet sie. Das konnte ich bestätigen.
Derek und Ray leben auch in einer WG zusammen, seit Derek bei Constri ausziehen mußte. Derek hat neulich in einer Bierlaune seinen Hund Flex ausgesetzt. Dies entspricht einer Straftat. Constri fand nach mühseliger Suche den Hund im Tierheim wieder und holte ihn zu sich. Jetzt gehört er Constri. Wenn sie keine Zeit hat, sich um den Hund zu kümmern, kommt er in eine Hundetagesstätte.
Ray erzählte auf der Party, er habe zu Derek gesagt, daß er es nicht gutheiße, den Hund auszusetzen. Jedoch unternahm Ray nichts, um dem Tier zu helfen. Nur weil Derek sich an Constri wandte und ihr seine Schandtat beichtete, konnte sie den Hund wiederfinden.
Constri wollte Derek nicht strafrechtlich belangen, weil sie befürchtete, die Beziehung zwischen Denise und Derek könnte darunter leiden.
"Derek hätte strafrechtlich belangt werden müssen", ermahnte ich Constri, als ich von der Geschichte erfuhr, "sonst lernt er das Falsche: er kann Straftaten begehen, ohne dafür die Verantwortung zu tragen. Derek muß einstehen für das, was er tut. Er muß Grenzen spüren. Und für Denise ist es wichtig, daß sie lernt, daß es Grenzen gibt. Eine Straftat darf nicht einfach unter den Teppich gekehrt werden. Denise muß lernen, daß es Gut und Böse gibt und daß man die Folgen für böse Taten tragen muß."
Mit Cyra unterhielt ich mich per SMS über Katzen und daß ich bald wieder Katzen haben möchte. Cyra simste:
"Könnte auch nicht ohne! :)"
"Ohne Katze fehlt immer was."
Am Sonntag war Muttertag, und Constri und ich bereiteten bei meiner Mutter Spargel zu. Im Garten steht jetzt ein Schaukelgestell, und Denise schaukelte und freute sich.
Meine Cousine Lisa hat am Muttertag ihre beiden Jüngsten taufen lassen, die dreieinhalbjährige Amaryllis und die sechs Monate alte Lilia. Constri ist eine Patin von Amaryllis geworden. Weil der Termin für die Taufe kurzfristig festgelegt wurde, konnte Constri bei der Taufe nicht dabei sein. So ging es mir damals auch, als Lisas älteste Tochter Ida getauft wurde. Constri und ich kommen aber zu regelmäßigen Besuchen nach S., so daß der Kontakt zu unseren Patenkindern lebendig bleibt.
Amaryllis hat sich für die Taufe ein rotes Kleid ausgesucht. Lilia trug ein Baby-Festkleidchen. Der Termin für die Taufe war bis zuletzt unsicher. Vor allem lag das an dem Drama, das sich eine Woche zuvor abgespielt hatte. Lisas Bruder Garret hatte sich nach Monaten wieder bei seiner Familie gemeldet. Er hatte Lisa und seinen Eltern jeweils ganz gleiche Briefe geschrieben, ungefaltet in großen Kuverts, und darin stand sinngemäß, er wolle sich selbst finden. Jedoch wirkten die Formulierungen und die Textgestaltung eigenartig verschnörkelt und wirklichkeitsfremd. Ein religiöser Wahn klang durch. Irmin fuhr nach Wien und fand in seiner dortigen Wohnung einen verwirrten Garret vor, den er mit nach S. nahm. Nach der Rückkehr ins Elternhaus geriet Garret mehr und mehr in Wahnstimmung, mit Umtriebigkeit und zunehmender Aggressivität. Lisa rief mich an und erzählte, ihre Mutter Jana befürchte, daß Garret an einer Psychose leide. Ich ließ mir die Symptome schildern und bestätigte die Vermutung. Ich betonte, niemand sei daran schuld. Eine Schizophrenie gehe auf eine entsprechende Veranlagung zurück und breche vor allem bei lebensgeschichtlichen Veränderungen aus, etwa - wie bei Garret - am Ende des Studiums. Ich riet, dafür zu sorgen, daß Garret so schnell wie möglich in eine psychiatrische Klinik kam.
"Der kann springen", warnte ich, "vom Balkon oder aus dem Fenster. Er ist eigengefährdend."
Lisa meldete sich wenig später wieder und berichtete, Garret habe keinerlei Krankheitseinsicht. Die Eltern hätten gezögert, ihren Sohn mit Polizeigewalt ins Krankenhaus bringen zu lassen. Weil Garret im Wahn seine Lebensversicherung gekündigt hatte, bat Irmin ihn, den Widerruf der Kündigung zu unterschreiben. Garret verstand nicht, wie ihm geschah, und sprang durch ein geschlossenes Fenster im Hochparterre ins Freie. Er lief hinunter ins Tal nach Rh. Nun schalteten die Eltern die Polizei ein. Nach kurzer Fahndung wurde Garret gefunden. Er hatte sich Schnittverletzungen zugezogen, die aber nicht lebensgefährlich waren. Nachdem er unfallchirurgisch behandelt worden war, kam er mit Unterbringungsbeschluß in die Psychiatrie.
"Was für ein Glück, daß er nicht aus einem höheren Stockwerk gesprungen ist", meinte ich.
Lisa ist traurig über das Schicksal ihres Bruders, der in seinem bisherigen Leben kaum je Erfüllung in zwischenmenschlichen Beziehungen finden konnte. Zuletzt hatte er sich auch von seiner Lebensgefährtin zurückgezogen.
"Garret hat bisher so wenig vom Leben gehabt, und ich bin so reich beschenkt worden", seufzte Lisa.
Garret leidet an einem Asperger-Syndrom, einer angeborenen Störung der sozialen Wahrnehmung und Kommunikation. Die Betroffenen sind normal intelligent, jedoch fällt es ihnen schwer, Stimmungen und unausgesprochene Botschaften im zwischenmenschlichen Kontakt zu empfangen und zu versenden. Dies führt zur sozialen Isolation. Nur durch den Kontakt zu Menschen, die die Schwäche der Betroffenen kennen und respektieren, können sie aus der Isolation herausfinden. Garret hat dadurch, daß er neben dem Asperger-Syndrom nun auch noch an einer Psychose leidet, doppelt schwer zu tragen.
Als ich mir am Dienstag von Mauro die Haare schneiden ließ, erzählte ich ihm von Bisats Beerdigung. Mauro erzählte von seinen Britisch-Kurzhaar-Katzen, die nur vierzehn Jahre alt wurden, nicht neunzehn Jahre wie Bisat. Die beiden Katzen lebten von klein auf zusammen, und als die Kätzin an Krebs erkrankte und eingeschläfert werden mußte, fraß der Kater nicht mehr und wurde schließlich auch eingeschläfert. Die Kätzin hatten Mauro und sein Freund beim Tierarzt gelassen, was Mauro im Nachhinein leidtat; wenigstens der Kater sollte nun ein Begräbnis bekommen. Weil er im Winter starb und der Boden gefroren war, kam er für drei Monate in die Tiefkühltruhe und wurde im Frühjahr beigesetzt. Mauro und sein Freund gingen nachts mit ihren Spaten in den nahegelegenen Stadtwald und begruben den Kater heimlich, denn in öffentlichen Anlagen dürfen keine Tiere beerdigt werden. Marcos Freund wollte danach keine Katzen mehr; das Drama um die verstorbenen Tiere hatte ihn zu sehr mitgenommen. Mauro, der schon seit Jahren von seinem Freund getrennt ist, überlegt, sich wieder Katzen anzuschaffen.
Am Donnerstagabend holte ich Tyra ab, um mit ihr zur "Spieluhr" zu fahren. Sie berichtete, ihr Freund Gilbert habe gerade mit ihr Schluß gemacht. Sie wirkte deswegen nicht besonders traurig. Weit mehr war sie mit Rafa beschäftigt. Sie erzählte, daß Rafa sie in Abständen von wenigen Tagen anruft und sich mit ihr trifft, bevorzugt an Dienstagen und Donnerstagen, die er gewöhnlich für Herrenabende und Stammtische freihält. So hat er Darienne gegenüber eine gute Ausrede.
In der "Spieluhr" gab es eine Achtziger-Party. Ich tanzte zu einem meiner Lieblingsstücke aus den Achtzigern, "People are people" von Depeche Mode. Die meiste Zeit saßen Tyra und ich auf Barhockern und hielten Kaffeeklatsch. Wir trafen Graciella, die sowohl für H.F. als auch für W.E zeitweise die Rolle eines Gogo-Girls übernommen hat. Graciella erzählte, sie habe mit Rafa nichts mehr zu tun. Er habe sie sowohl bei H.F. als auch bei W.E hinausgeworfen, weil Darienne eifersüchtig geworden sei.
Tyra erzählte, daß Rafa sie vor einer Woche anrief und sagte, er habe gerade gute Laune. Wenn sie Lust habe, könne sie ja mal auf ein Bier vorbeikommen. Tyra besuchte ihn, und sie spielten Spiele an seinem PC. Als Rafa ein Spiel verlor und behauptete, gewonnen zu haben, legte Tyra ihm einen Arm auf die Schulter und erklärte:
"Schau mal, da vorn ist mein Männchen auf dem Bildschirm, und mit diesem Männchen habe ich gerade gewonnen."
Rafa blickte Tyra waidwund in die Augen und küßte sie. Dann raffte er seine entglittene Mimik zusammen, ging an den C64 und begann dort zu spielen.
"Warum mußte das Küßchen sein, und warum muß es jetzt der C64 sein?" wollte Tyra wissen.
"Immer diskutierst du, das nervt mich", beschwerte sich Rafa. "Eigentlich war es klar, daß deine Mitarbeit bei W.E nicht für die Ewigkeit sein würde. Es hat mich gestreßt, daß du diskutiert hast, anstatt einfach nur meine Befehle zu befolgen."
Daß Rafa von seinen Bandmitgliedern Kadavergehorsam verlangt, steht in einem kuriosen Kontrast zu seiner in der Öffentlichkeit stereotyp wiederholten Aufforderung:
"Benutze dein Gehirn - jetzt!"
Rafa meinte, Tyras Art, mit ihm zu sprechen, mache ihn "fassungslos". Er glaube, es sei nicht gut, wenn er sich so oft mit Tyra verabrede.
"So, du bist doch derjenige, der sich dauernd mit mir treffen will", gab Tyra zurück. "Ich bin nur deshalb hier, weil du mich darum gebeten hast."
"Es ist mir zu gefährlich", meinte Rafa. "Es wird immer so komisch, wenn ich eine Frau treffe, mit der ich nichts haben kann, und außerdem hast du einen anderen."
"Ich will ohnehin etwas mehr Abstand haben."
Tyra gab zu bedenken, daß Rafa sie immer wieder verletzt und beleidigt hat, als sie ihm noch zu Willen war.
"Wenn du Steinbock wärst, würde dich das nicht stören", sagte Rafa lapidar.
"Demnächst gehe ich sogar nach Afrika", kündigte Tyra an. "Ich will Entwicklungshelferin werden."
"Das ist aber ganz schön weit weg", meinte Rafa.
"Hoffentlich weit genug, um über dich hinwegzukommen", entgegnete Tyra. "Immerhin hätte ich letztes Jahr fast Auf Wiedersehen gesagt, deinetwegen."
"Hättest du halt mal was sagen müssen."
"Das konnte ich ja damals nicht, du hast ja nicht mit mir geredet."
"Hättest du halt noch öfter was sagen müssen."
"Dazu hatte ich nicht die Gelegenheit."
Rafa erkundigte sich, womit Tyra sich umbringen wollte.
"Paracetamol", antwortete sie.
"Ach, damit kannst du dich doch nicht umbringen", behauptete Rafa. "Damit kannst du dir höchstens die Nieren kaputtmachen."
"Man müßte ihm sagen, daß Paracetamol nicht die Niere, sondern die Leber angreift und daß man sich mit der Dosis, die du genommen hast, durchaus hätte umbringen können", kommentierte ich, als Tyra mir dies erzählte. "Und man müßte ihm sagen, daß du nicht einmal, sondern gleich dreimal suizidal warst. Der verharmlost doch alles und tut so, als wäre er an gar nichts schuld. Dabei war er es doch, der an allem schuld war. Es wäre doch völliger Unsinn gewesen, ausgerechnet ihn um Hilfe zu bitten, wo es doch gerade er ist, der dich immer wieder verletzt, indem er mit anderen Frauen 'rummacht."
Tyra erinnerte sich:
"Schließlich hat er noch so dahingesagt:
'Na ja, vielleicht habe ich auch nicht immer alles richtig gemacht.'"
"Das erinnert mich an einen Ablaßzettel", kommentierte ich. "Rafa zahlt einen Euro für einen Ablaßzettel und ist seine Schuld los. Der macht sich das ganz schön einfach."
Meine Vermutung, daß Rafa die Frauen nicht als "richtige Menschen" betrachtet, konnte Tyra bestätigen. Einmal soll Rafa gesagt haben:
"Ey, ich rede hier nicht von Menschen, ich rede hier von Frauen."
"Ich bin auch eine Frau", hat Tyra daraufhin zu ihm gesagt.
"Nein, du bist eine Ausnahme", wollte Rafa sich herausreden. "Du bist irgendwie was anderes."
"Wieso? Bin ich ein Kerl?"
"Nein, aber du bist trotzdem irgendwie was anderes."
"Wie? Bin ich keine Frau, oder was?"
Da fiel Rafa nichts mehr ein, was er hätte entgegnen können.
Kurz nach diesem Schlagabtausch begann Rafa, gegen die "Spezies Mensch" zu wettern. Er zeigte auf Tyra und sagte:
"Du gehörst auch dazu."
"Wieso?" fragte sie. "Ich bin doch kein Mensch. Ich bin doch eine Frau. Du hast doch gesagt, daß Frauen keine Menschen sind."
Da fiel Rafa auch nichts Nennenswertes ein, was er hätte entgegnen können.
"Rafa stolpert dauernd über die Widersprüche in seinen Ansichten", stellte Tyra fest.
"Ach, ich würde mich so gerne mal wieder mit Rafa streiten", seufzte ich sehnsuchtsvoll. "Das macht so einen Spaß, mit ihm zu streiten. Aber ich habe so gut wie nie die Gelegenheit dazu."
Ich erzählte von meiner Beobachtung, daß Rafa stets die Flucht ergreift, wenn er bei sich selbst Gefühle für einen anderen Menschen wahrnimmt. Meine Theorie lautet, daß das Erobern von Frauen bei Rafa dazu dient, die Illusion von Macht, Kontrolle und Selbstsicherheit zu erzeugen und daß es mit Liebe nichts zu tun hat. Liebe ist für Rafa gleichbedeutend mit Ohnmacht, Kontrollverlust und Selbstunsicherheit.
"Sex und Liebe liegen bei Rafa weit auseinander", meinte ich.
Tyra nickte.
Die Kalender, in denen Tyra ihre Erlebnisse mit Rafa notiert hat, hat sie inzwischen an ihre Mutter weitergegeben, weil sie sie nicht mehr in ihrer Wohnung haben wollte. Tyra nimmt an, daß die Mutter die Kalender weggeworfen hat, weil Tyra ihr vermittelte, auf die Kalender keinen Wert mehr zu legen. Alle weiteren Aufzeichnungen, die Tyra über ihre Erlebnisse mit Rafa gemacht hat, hat sie verbrannt, ebenso wie alle Briefe, die Rafa an sie geschrieben hat.
"Wenn ich etwas über Rafa aufschreibe, dann vor allem die guten Erlebnisse mit ihm, und es tut mir gut, wenn ich es aufschreibe", erzählte Tyra. "Wenn ich es aber später wieder lese, erinnere ich mich an das Schlimme, was Rafa mir angetan hat, und dann geht es mir furchtbar schlecht. Und wenn es mir schlecht geht, fühle ich mich haltlos und verlassen und weine so, daß ich keine Luft mehr kriege."
"Du vernichtest die Aufzeichnungen, um dich selbst zu schützen."
"Ja."
"Und es wäre gefährlich für dich, die Aufzeichnungen zu lesen."
"Ja."
"Es ist seltsam - wenn ich etwas aufschreibe, macht mich das stark, und wenn ich es lese, macht es mich auch stark", erzählte ich. "Für dich jedoch wird es zur Gefahr. Wenn es mir schlecht geht, fühle ich mich wie ein Bleiklotz und will trotzdem laufen. Wenn es dir schlecht geht, schwebst du haltlos in der Luft und findest den Boden unter den Füßen nicht mehr."
"Das ist schon merkwürdig, daß wir so unterschiedlich reagieren."
"Vielleicht liegt es daran, daß ich mich nie völlig verlassen fühle", überlegte ich. "Ich habe immer das Gefühl, daß irgendwo etwas ist, das mich so will, wie ich bin. Und das Seltsamste ist, daß ich mich von Rafa geliebt fühle, obwohl es keinen Beleg dafür gibt und alles dagegen spricht. Ich denke, Rafa weiß selber nicht, was er empfindet, weil er keinen Kontakt zu seinen Gefühlen hat. Er hat sich von seinem Schöpfer abgewendet und seine Seele an den Bösen verkauft."
Tyra denkt ernsthaft daran, nach Afrika überzusiedeln, weil sie glaubt, Rafa dadurch vergessen zu können.
"Vielleicht finde ich in Afrika endlich genug Abstand zu Rafa", hoffte sie. "Ich will für ein Jahr nach Afrika, um Menschen zu helfen, die wirklich Probleme haben. Ich habe mich erkundigt; ich kann dort vielleicht als Erzieherin an einem Entwicklungshilfe-Projekt teilnehmen. Die bauen Spielplätze für Kinder, die noch nie einen gesehen haben. Die richten Kindergärten ein."
"In Afrika ist es gefährlich. Dort gibt es viel Gewalt und viele Krankheiten."
"Ja, ich habe schon Angst. Aber ich glaube, ich muß so weit weg, damit ich über Rafa hinwegkomme."
Ein Lied wurde gespielt, das Rafa gerne im Auto laufen ließ, wenn er mit Tyra zu den gemeinsamen Auftritten fuhr.
"Jetzt ist es wieder da, dieses schreckliche Gefühl", sagte Tyra. "Jetzt kommt das alles wieder hoch."
"Deine Erlebnisse einfach nur aufzuschreiben, hilft dir nicht", meinte ich. "Mir hilft das, aber für dich ist es gefährlich. Vielleicht hilft es dir, wenn du deine Erlebnisse nicht einfach dokumentierst, sondern sie kreativ umsetzt, also Gedichte schreibst oder Geschichten. Du hast doch diesen Liedtext geschrieben, den du mir im 'Departure' vorgelesen hast ..."
"Ja, das hat mich befreit."
"Dieser Text hat dich also nicht 'runtergezogen, sondern dir geholfen."
"Ja."
"Also wäre es am besten, du schreibst irgendetwas Erfundenes, Gedichte oder Geschichten. Darin tauchen automatisch deine Erlebnisse mit Rafa auf, aber in einer verarbeiteten Form, die für dich nicht mehr gefährlich ist. Du wirst dadurch stark, daß du etwas erschaffst, das vorher nicht da war, und du wirst dadurch stark, daß du das Erlebte weiterverarbeitest und auf diese Weise neue Sichtweisen entwickelst und eine heilsame Distanz erreichst. Du hast ein hervorragendes Gedächtnis und kannst dir die Dialoge mit Rafa bis ins Detail merken. Es ist schade, daß es für dich so gefährlich ist, sie aufzuschreiben. Ich finde, eigentlich müßte man deine Fähigkeit nutzen und diese Erlebnisse verewigen. Aber es darf daraus kein Risiko für dich entstehen. Deshalb bleibt mir nur übrig, mir zu merken, was ich mir merken kann, und selbst alles aufzuschreiben."
Wir unterhielten uns über die Elektro- und Wave-Szene. Tyra meinte, in dieser Szene begegne man Leuten wie überall sonst auch, mit ihren Beziehungsnöten und Zukunftsängsten. Eine besondere Art von Menschen seien die Leute in der Szene nicht.
"Die Szene ist vor allem eine Kulturszene mit Vorliebe für bestimmte Kleider und bestimmte Musik", meinte ich. "Die Menschen sind im Wesentlichen ganz normale Menschen, allerdings mit einer überzufälligen Häufung von schrillen Außenseitern. Deshalb fühle ich mich in der Szene zu Hause."
Tyra erzählte, daß sie im Alltag nicht nur Schwarz trägt.
"Im Alltag hat Schwarz für mich eine untergeordnete Bedeutung", erzählte ich. "Viel Schwarz gibt es in meiner Abendgarderobe, die mir sehr wichtig ist."
"Warum?"
"Weil ich mich gerne schick anziehe", erklärte ich. "Das ist die Prinzessin in mir. Und in der Szene kann ich mich stylen, wie ich will, ohne daß ich auffalle. Das tut mir so gut."
Tyra erinnerte sich an die Ereignisse im "Byzanz" Mitte Januar des letzten Jahres. Sie vermutete, Rafa habe sie damals aus zwei Gründen in der Öffentlichkeit umarmt und geküßt: einmal, weil er sowieso mit ihr Zärtlichkeiten auszutauschen pflegte, und einmal, weil es ihn störte, daß Tyra und ich uns unterhielten, und er diese Unterhaltung stören wollte.
"Das hat er nicht geschafft", meinte ich. "Er wollte einen Keil zwischen uns treiben, und das hat er nicht geschafft."
"Und als er gemerkt hat, daß er es nicht schafft, hat er sofort etwas mit Darienne angefangen", ergänzte Tyra. "Ja, das muß gleich danach losgegangen sein. Als ich sie Mitte Februar zur Rede gestellt habe, hat sie gesagt, zwischen Rafa und ihr würde schon seit vier Wochen was laufen."
Rafa sah sich anscheinend durch Tyra und mich gekränkt und hielt sich schadlos, indem er loszog, um Beute zu machen. Bei der ihn anbetenden Darienne konnte er sich wieder mächtig fühlen.
Als Tyra und ich gegen Morgen zu dem Haus zurückkamen, wo Tyra wohnt, erinnerte sie sich an die Zeit nach Berenices Trennung von Rafa. Rafa sei damals ganz trunken vor Verliebtheit in Tyra gewesen. Tyra hoffte, nun endlich als Rafas offizielle Freundin zu gelten. Rafa jedoch wollte Tyra auch weiterhin nur als heimliche Geliebte haben. Rafa schmeichelte ihr, um sie gefügig zu halten.
"Er hat immer wieder gesagt, wie sehr er sich freut, daß er mit mir zusammen ist", erinnerte sich Tyra. "Und kurz darauf hat er mit Darienne was angefangen. Und immer, wenn ich mir vorstelle, daß er zu ihr dasselbe gesagt hat, was er zu mir gesagt hat, tut mir das so weh ..."
"Das zeugt ja auch von einer ganz besonderen Herzenskälte."
"Warum?"
"Wenn ein Mann erst zu der einen Frau sagt, daß er so sehr in sie verliebt ist, und dann gleich zu einer anderen Frau dasselbe nochmal sagt, ist beides gelogen", meinte ich.
Ich erzählte, daß ich mir so bald wie möglich wieder eine Katze holen will, vielleicht auch zwei aus demselben Wurf, damit sie nicht so allein sind, wenn ich weg bin.
"Du vermißt Bisat bestimmt sehr", meinte Tyra.
"Auf jeden Fall", nickte ich. "Es muß wieder etwas Lebendiges in die Wohnung, auch wenn man Bisat nicht ersetzen kann. Ohne Katze ist die Wohnung leer."
Am Freitag war ich mit Constri und Gesa im "Alcantara". Wir saßen mit Sylvie und einigen ihrer Bekannten unmittelbar vor der Bühne, die zugleich die Tanzfläche ist. Sylvie erzählte, daß das "Alcantara" zum Monatsende geschlossen wird, wohl aus finanziellen Gründen.
Carla war erkältet, trat aber trotzdem auf. Zwei seiner Shows zeigte er wie in der Woche zuvor, mit dem orientalisch anmutenden Kostüm in Gold und dem Alien-Kostüm mit den grünen Lasern. Carlas ansteckendes Lachen und sein freundliches Lächeln täuschten über seinen angeschlagenen Gesundheitszustand hinweg. Die beiden letzten Shows führte Carla in langen durchsichtigen Kleidern vor, die seine schmale Figur umspielten. Unter den Kleidern trug er knappe Slips. Carla sang Balladen. Nach der Show kam er zu unserem Tisch, nun wieder mit Irokesenfrisur, in Militärhosen und Motorradjacke. Constri, Sylvie und ich knuddelten und umarmten ihn und wünschten ihm Gute Besserung. Mit seinem Freund Rico ging Carla weg.
Am Samstag meldete sich Sam bei mir, er hatte keine Bleibe mehr und wollte mich besuchen. Als Begrüßungsgeschenk gab er einen makabren Witz zum Besten:

Zwei Kannibalen begegnen sich, der eine trägt ein Skelett. Fragt der andere:
"Was willst du mit dem Skelett?"
"Leergut wegbringen."

Sam erzählte unterhaltsame Geschichten, die belegen sollten, warum er kein Geld und kein Zuhause mehr hatte. Sam kann gut erzählen und könnte so manchem Märchenerzähler auf dem Basar Konkurrenz machen.
Sam kennt den vorbestraften Lennart Brehler. Sam findet ihn "unerträglich". Übrigens sei Lennart Brehler nicht der Geschäftsführer vom "Verlies", sondern lediglich Türsteher.
Zu seiner eigenen Geschichte erzählte Sam, er kenne seinen Vater nicht, und seine Mutter habe einen Freund nach dem anderen gehabt. Sam sei schließlich vom Jugendamt in einer Pflegefamilie untergebracht worden. Es folgten eine kriminelle Karriere und eine Suchtkarriere. Hinsichtlich seiner Haftzeiten und der von ihm begangenen Straftaten blieb Sam im Ungefähren.
Über Rafa hingegen ließ Sam sich gerne aus. Er erzählte, eine Bekannte von ihm sei mit Rafa zur Schule gegangen. Sie habe Rafa nie leiden können.
"Der nimmt alles mit, was nicht schnell genug laufen kann", meinte sie.
Rafa habe auch mit ihr angebändelt, jedoch bei ihr keine Chance gehabt. Einige Leute, mit denen Rafa früher unterwegs war und mit denen er im "Keller" Stammtische abhielt, sollen sich nach und nach von Rafa distanziert haben. Sam meinte, Rafas Herrschsucht und sein leeres Geschwätz hätten die Leute abgeschreckt.
Sam provoziert Rafa gerne:
"Kürzlich habe ich Rafa im Supermarkt gesehen und mit den Armen gewinkt und gerufen:
'Hallo Rafa, ich bin dein Fan!'
Er hat nichts gesagt, ist nur auf seinen Motorroller gestiegen und weggefahren."
Sam durfte mit mir zum Einkaufen. Er trug die schweren Tüten zu meiner Wohnung hinauf. Dann durfte er mit mir essen. Gegen Abend erzählte Sam, er wolle zu einer Freundin ans andere Ende der Stadt. Er habe jedoch kein Geld mehr und fürchte sich vor dem Schwarzfahren.
"Da mußt du durch", meinte ich. "Nimm es als Erfahrung. Wenn du bis zum Endpunkt vor den Kontrolleuren zitterst, denkst du vielleicht nächstes Mal daran, ob du noch genügend Geld für eine Fahrkarte übrig hast."
"Wenn ich erwischt werde, ist die Hölle los."
"Du mußt deinen Personalausweis dabeihaben, dann kann dir nichts passieren."
"Den habe ich nicht dabei."
"Was?" staunte ich. "Du mußt immer deinen Personalausweis dabeihaben!"
"Den kann ich aber nicht dabeihaben, weil ich den erst neu beantragt habe."
"Ach, und den alten hast du verloren?"
"Das ist nochmal eine ganz andere Geschichte."
"Ah, so. Denke daran - wenn du keinen Personalausweis dabeihast, mußt du wenigstens deinen Führerschein dabeihaben."
"Haha!" lachte Sam. "Guter Witz!"
"Nicht wahr?"
Es half ihm nichts, er mußte ohne Fahrkarte in die Bahn steigen.
Jana mailte, ihr Sohn Garret sei inzwischen freiwillig in der psychiatrischen Klinik. Wie sich herausstellte, hatte Garrets Lebensgefährtin schon länger von seiner Erkrankung gewußt, jedoch seinen Eltern nichts davon erzählt. Angeblich hatte sie mit Garret Heiratspläne. Sie bewahrte Garrets EC-Karte auf und kannte seine PIN. Jana und Irmin bekamen den Eindruck, daß Garrets Lebensgefährtin es auf Garrets Vermögen abgesehen hatte.
Tyra rief mich an und erzählte, sie sei eingesperrt in der Wohnung ihres Vaters. Er sei weggefahren, um mit Charlize zu schlafen. Außerdem habe Charlize ein Piece Haschisch für ihn.
"Mein Vater weiß genau, daß Charlize was mit Rafa hatte und wie schwierig das mit mir und Charlize ist", klagte Tyra, "aber es ist ihm egal."
"Und warum hast du dich von deinem Vater einsperren lassen?"
"Weil er gesagt hat, er kommt gleich wieder."
"So, und das glaubst du!" seufzte ich. "Du kennst deinen Vater doch. Dein Vater verhält sich nicht wie ein Vater. Daß er sich für so junge Frauen wie Charlize begeistern kann, ist ein Hinweis darauf, daß er pädophile Neigungen hat. Es geht um eine Mißbrauchsproblematik."
"Ich wurde nicht mißbraucht."
"Nein, wurdest du auch nicht, nicht im engeren Sinne. Es handelt sich um eine subtile Form des Mißbrauchs, die nicht strafbar ist, aber verheerende Folgen haben kann. Dein Vater betrachtet dich nicht als Tochter, sondern er verwechselt dich mit einer Partnerin."
"Ja, das tut er", bestätigte Tyra. "Einmal war er mit mir unterwegs, und ein Bekannter sagte zu ihm:
'Hast du aber eine flotte Schnecke abgekriegt.'
Da hat mein Vater gesagt:
'Ja, das ist meine neue Freundin.'"
"Siehst du."
"Er kommt immer an und will Körperkontakt. Und mir geht es dabei gar nicht gut, ich finde das furchtbar."
"Eben", nickte ich. "Das ist Grenzüberschreitung. Das ist eine Form des Mißbrauchs, die nicht strafbar ist. Schon als du mir erzählt hast, daß du geritzt hast, habe ich mich gefragt:
'Wo ist der Mißbrauch?'
Denn wenn jemand ritzt, hat das fast immer mit Mißbrauch zu tun."
"Ich habe nicht geritzt", widersprach Tyra. "Ich habe mir nur einmal ins Bein geschnitten, aber das werde ich bestimmt nie wieder tun."
"Du hast es immerhin getan. Es muß nicht sein, daß Mißbrauch dahinter steht, aber es ist eine Faustregel; es trifft meistens zu."
Ivon berichtete, daß Sam untergetaucht ist. Zuvor habe Sam sich bei allerlei Leuten eingenistet und sich Geld geliehen, das er nicht zurückgegeben habe.
Ende Mai war ich bei meinem Vater zu Besuch und beschriftete zwei Holzschilder mit einem Lötkolben. Auf das eine schrieb ich:

BISAT
* 1987   † 2006

Auf das andere schrieb ich:

IN MEMORIAM
EUGEN
1989 - 2000


Eugen hieß der Kater meines Vaters. Eugen war in Wald und Feld unterwegs und ist im Jahr 2000 einer Virusinfektion erlegen. Er blieb beim Tierarzt und hat kein Grab.
Mein Vater und ich fuhren mit den Holzschildern zu Bisats Grab. Mit Hilfe eines Akku-Bohrschraubers schraubten wir die Schilder an den Pfahl, den wir am Kopfende in das Grab eingelassen haben. Ich legte einen Strauß frisch gepflückter Kornblumen auf das Grab.
Zu Bisats Tod erhielt ich viele Beileids-E-Mails. Sylvain schrieb:

Das mit deiner Katze tut mir leid. Aber ich hoffe, sie schläft in Frieden in dem kleinen Wäldchen, wo sie nun ruht.

Unter anderem wurde ich gefragt, wie Bisats Name zustandegekommen ist. Ich erzählte:

Der Name "Bisat" ist frei erfunden. Er ist mir eingefallen, als wir Bisat geholt haben und mit ihm auf dem Sofa des Vorbesitzers saßen. Ich fand, der Name paßt genau zu dem Kater.

Shara schrieb:

Könnte durchaus persisch oder arabisch sein.

In nächster Zeit möchte ich zwei Kätzchen ein Zuhause geben. Noch bin ich auf der Suche.
In der Nacht zu Himmelfahrt war ich im "Zone". Musikalische Highlights waren für mich "Graograman [F/A/V Remix]" von KiEw und "Disko Palästina [Mixed by Nin Kuji]" von Qntal vs. Monolith, eine rasante Mischung aus kompromißlosen Power-Elektro-Beats und dem mittelalterlichen Palästinalied.
Mit Heather setzte ich mich für ein Weilchen in das "Zone"-Café in einen ruhigen Winkel. Heather erzählte, daß sie sich einen gutaussehenden Freund wünscht, daß sie sich aber wenig Chancen ausrechnet, weil es ihr nicht gelingt, abzunehmen.
Tags darauf war ich abends bei Magdalena. Sie hat in ihrem Jugendzimmer die Wände so angemalt, daß es aussieht, als befinde man sich in einer mittelalterlichen Burg. Magdalena ist froh, in dieses Zimmer zurückgekehrt zu sein. Sie habe vor allem dadurch finanziellen Schaden erlitten, daß sie sich mit Sam eine Wohnung geteilt habe. Anstatt die Miete zu bezahlen, habe Sam das Geld heimlich für eigene Zwecke ausgegeben. Nun werde auch Magdalena für die Mietschulden verantwortlich gemacht, weil sie mit im Mietvertrag gestanden habe.
"Ich mit meinen neunzehn Jahren bin wegen Betrugs angezeigt und muß mir einen Anwalt nehmen", klagte Magdalena.
Sie erzählte, Sam habe bei vielen Leuten Schulden gemacht und sei dann von der Bildfläche verschwunden. Sam habe wegen eines Gewaltdelikts eine siebenjährige Haftstrafe abgesessen. Die Bewährungsfrist laufe noch drei Jahre. Wenn er sich nicht regelmäßig bei einer bestimmten Polizeidienststelle melde, riskiere er, zur Fahndung ausgeschrieben zu werden.
Magdalenas neuer Freund habe sich gewundert, weil sie ihn kurz nach dem Kennenlernen fragte, ob er Vorstrafen hat und mit Drogen zu tun hat.
"Verzeih' mir", bat Magdalena, "aber ich habe schlechte Erfahrungen gemacht."
Magdalena erzählte, daß sie Rafa am Dienstag in SHG. gesehen hat, wie er allein durch die Stadt ging und sich den Schal über die Schulter warf, eine ähnliche Geste wie das "nervöse Zucken", mit dem er sich auf der Bühne die Ponysträhnen aus dem Gesicht zu schleudern pflegt. Als Magdalena ihn in der Stadt sah, soll er eine Ausstrahlung gehabt haben, als wollte er sagen:
"Weg mit dem Fußvolk."
"Er ist unsicher", deutete ich, "er hat Angst vor Menschen. Und das wandelt er um in Haß und Arroganz."
Nachts war ich mit Magdalena in der "Spieluhr", wo Les auflegte. Tyra hatte eigentlich dabei sein wollen, litt jedoch an einem Hangover von dem Himmelfahrtsgelage mit ihren Freundinnen.
Am Morgen hatte ich folgenden Traum:

Christian, die Katze
Einige Bekannte von mir schenkten mir eine "Übergangs-Katze" für die Zeit, in der ich noch keine neuen Kätzchen habe. Die "Übergangs-Katze" war ein hübscher junger Mann namens Christian. Seine Rolle als Katze war ein Job, den er bis zum Beginn seines Studiums angenommen hatte. Christian war ruhig, nett und anspruchslos. Er wollte nichts anderes, als vorübergehend meine Katze zu ersetzen. Rafa konnte er leider nicht ersetzen, auch wenn er - im Gegensatz zu Rafa - ein anständiger Mensch zu sein schien. Ich hätte gerne Christian geliebt, anstatt Rafa zu lieben. Ich hätte Christian gerne in dieser Weise für seine Anständigkeit belohnt. Doch ich hatte nur freundschaftliche Gefühle für ihn.

Mir wird häufig vorgeworfen, ich könnte mich nur deshalb nicht in andere Männer verlieben, weil ich Rafa kenne. Das bezweifle ich. In den vierzehn Jahren meiner Suche ist mir nie jemand begegnet, für den ich nur annähernd so empfunden habe wie für Rafa. Auch zu Henk habe und hatte ich immer nur ein platonisches Verhältnis.
Tyra erzählte am Telefon, daß sie beim Himmelfahrts-Gelage mit ihren Freundinnen draußen herumgelaufen sei und immer wieder gerufen habe:
"Sulos Himmelfahrt! Eine Tonne hebt ab!"
Sie spielte auf die Comic-Serie über die sündige Sondermüll-Tonne Sulo an, die ich nach und nach online stelle. Tyra erzählte, sie habe sich "krankgelacht", als sie die Comics las. Besonders habe ihr die Szene gefallen, in der die hochmütige Sondermülltonne Sulo zur Strafe in einer Damentoilette arbeiten muß.
Nachts fuhr ich mit Tyra zum "Roundhouse". Sie trug ihr Korsett und dazu Ärmlinge, die sie durch ein Bänderwerk mit einem Halsband verknüpft hatte.
"Endlich kann ich tragen, was ich will", freute sie sich.
"Wer kommt denn auf die Idee, dir Vorschriften zu machen?" fragte ich. "Das ist doch nur deine Entscheidung, was du anziehst."
"Ich weiß, du würdest dir keine Vorschriften machen lassen. Bruce war chronisch eifersüchtig und hätte mir am liebsten verboten, daß ich das Korsett anziehe, weil er meinte, daß ich damit die Blicke anderer Männer auf mich ziehe, und das wollte er nicht. Weil ich aber das Korsett auf jeden Fall anziehen wollte, hat er verlangt, daß ich unter meinem Rock eine Hose anziehe, und den Gefallen habe ich ihm getan, obwohl ich den Rock lieber ohne die Hose getragen hätte. Und Gilbert hat gemeint, ich würde in dem Korsett wie eine Nutte aussehen."
"Das ist doch völliger Unsinn. Du siehst einfach nur gut darin aus, das ist alles."
Als ich Tyra fragte, wie sie am Dienstag aus dem Haus ihres Vaters wieder herausgekommen sei, erzählte sie, daß ihr Vater nach etwa eineinhalbstündiger Abwesenheit zurückgekommen sei. Er habe bei Charlize Haschisch geholt, sei aber nicht mit ihr im Bett gewesen; sie wollte anscheinend nichts von ihm.
Tyra erzählte von Rafas Eßgewohnheiten:
"Er ißt nicht besonders viel, aber er stopft das immer so in sich 'rein."
"Warum stopft der alles so in sich 'rein?"
"Der hat keine Zeit zum Essen."
"Doch, der hat jede Menge Zeit."
"Ja, Zeit hat der, aber er hat nicht die Ruhe zum Essen."
"Dann kann er das Essen aber doch überhaupt nicht genießen."
"Nein, der kann das auch nicht genießen."
"Ist der immer so hektisch?"
"Ja, der ist immer so hektisch."
"Dann kann der doch nichts genießen."
"Nein, der kann auch nichts genießen."
"Dann müßte der doch unter andauerndem Streß stehen."
"Ja, der steht ja auch unter andauerndem Streß."
"Aber das hält doch niemand für immer aus", meinte ich. "Der müßte doch irgendwann zusammenbrechen."
"Das ist mehr so ein langsames Verfallen", hat Tyra beobachtet. "Der wird immer grauer im Gesicht. Zur Zeit überspielt er das ja mal wieder vollkommen, das regt mich voll auf.
'Alles wird gut', sagt er immer, 'mir geht's gut.'
Und dann spielt er am C64, damit er nur ja nicht nachdenken muß."
Tyra erzählte, sie habe Rafa seine Verantwortungslosigkeit vorgehalten. Sie habe ihm einige Schimpfwörter an den Kopf geworfen, worauf er in herablassendem Tonfall entgegnet habe:
"Und weiter?"
Nach noch mehr Schimpfwörtern habe er herablassend gefragt:
"Und weiter? Ich sehe, das muß doch alles mal 'raus."
Tyra erklärte ihm:
"Wenn man eine Beziehung hat - und wir beide hatten durchaus so etwas wie eine Beziehung, denn wir haben alles miteinander geteilt -, dann trägt man für diese Beziehung auch Verantwortung."
Darauf wußte Rafa nichts mehr zu entgegnen.
Tyra erzählte, wenn sie Rafa in seinem Keller besucht habe, habe sie nie gewußt, wie lange sie dort bleiben würde. Wann er sie herbestellte und wann er sie wieder wegschickte, habe er von seinen Launen abhängig gemacht. Und sie habe sich nach seinen Launen gerichtet, anstatt ihre Besuche bei ihm selbst zu begrenzen. Tyra fällt es schwer, sich abzugrenzen. Weil sie die Grenzen ihrer Privatsphäre nur sehr eingeschränkt wahrnimmt, kann sie ihre Privatsphäre nur sehr eingeschränkt verteidigen. Rafa nutzt diese Schwäche aus.
"Mal hat Rafa mich nach einem Tag 'rausgeworfen, mal nach fünf Tagen, das wußte ich nicht vorher", erzählte Tyra. "Und ich bin immer geblieben, bis er mich 'rausgeworfen hat, weil ich wollte, daß die Zeit mit ihm nie vorübergeht."
"Das hätte ich nie mitgemacht."
"Nein, du nicht."
"In solchen Verhältnissen hätte ich nie leben wollen."
Tyra erzählte, daß Rafa damals von ihr verlangte, daß sie andere Menschen belog. Wenn sie gefragt wurde, ob sie Rafa näher kannte, sollte sie antworten, sie kenne ihn nur flüchtig. Sie habe ihm diesen Gefallen getan, weil er gemeint habe, es brauche doch niemand zu wissen, daß sie sich näher kannten. Warum aber niemand wissen sollte, daß sie sich näher kannten, erklärte er nicht, und Tyra fragte ihn auch nicht danach.
Tyra meinte, es habe durchaus auch schöne, gemütliche Zeiten gegeben mit Rafa; man habe "herumgehangen, Snacks gefuttert und Videos geguckt".
"Das ist für mich eine alptraumhafte Vorstellung", erschauerte ich. "Nur herumzuhängen, das finde ich ganz furchtbar. Sazar nennt das:
'Eine Beziehung mit den drei 'F' - F..., Fressen, Fernsehen.'"
"Ja, das hatten Rafa und ich, nachdem wir Mitte Januar vom 'Byzanz' nach Hause gekommen sind", erzählte Tyra. "Tagelang."
"Und danach hat Rafa gleich mit Darienne was angefangen."
"Na, eine Woche später."
"Ja, und das war für ihn kein Problem", setzte ich hinzu. "Erst erzählt Rafa dir, eure Beziehung hätte so einen guten Start gehabt, die könnte nur noch spitze werden, und dann geht er mit Darienne ins Bett. Es war für Rafa nie ein Problem, übergangslos von einer Frau zur nächsten zu wechseln."
Wir redeten über Wut. Ich meinte, Wut sei notwendig, denn sie versetze einen Menschen in die Lage, sich oder andere zu verteidigen. Tyra fällt es schwer, Wut zu empfinden, und wenn sie sie empfindet, gelingt es ihr meistens nicht, sie in gezieltes und konsequentes Handeln umzusetzen. Tyra erzählte, sie werde nicht wütend, sondern einfach nur traurig, wenn Rafa sie schlecht behandele. Wenn er ihr vermittle, nichts wert zu sein, glaube sie tatsächlich, sie sei nichts wert, und sie fühle sich verlassen und glaube, sie sei nicht liebenswert, und das mache sie traurig. Sie wisse eigentlich, daß alle Menschen gleich viel wert seien und daß alle Menschen liebenswert seien, aber wenn sie entwertet werde, könne sie das gefühlsmäßig nicht mehr nachvollziehen.
"Das ist ein Programm in dir", meinte ich, "das wird durch solche Erlebnisse immer wieder reaktiviert."
"Und woher kommt so ein Programm?"
"Das wird in den ersten Lebensjahren installiert. Es liegt im Wesentlichen an den ersten Bezugspersonen, ob jemand ein intaktes Selbstwertgefühl hat oder nicht."
Tyra erzählte, Rafa lasse auf seine Eltern nichts kommen; seinen Vater hebe er in den Himmel, obwohl der längst dort sei. Rafa hat auch mir gegenüber die heile Fassade seiner Familie immer wieder betont. Konflikte, Demütigungen und Gewalt in der Familie wurden heruntergespielt und verleugnet. Daß Rafa seine Traumatisierungen nicht verarbeitet hat, bekommen seine Freundinnen und Liebschaften zu spüren. Rafa gibt die erlebte Gewalt und die erlebten Demütigungen an diese Mädchen weiter.
Im "Roundhouse" trafen wir Joujou, die einige Tage vorher Geburtstag gehabt hatte. Sie hatte sich "Hello Kitty"-Sachen gewünscht und auch viele bekommen, darunter eine Kette mit glitzerndem "Hello Kitty"-Katzenkopf-Anhänger, die sie bereits um den Hals trug. Ich schenkte ihr eine rosafarbene "Hello Kitty"-Vorratsdose.
Tyra erzählte, daß sie von ihren Eltern höchstens ein bißchen Schokolade zum Geburtstag bekommt.
"Ich bin absolut nicht materialistisch", verharmloste Tyra diese Geringschätzung. "An meinem Geburtstag zählt für mich nur, daß wir in der Familie alle zusammen sind."
"Für meine Schwester gebe ich je nach Finanzlage unterschiedlich viel Geld aus", erzählte ich, "das kann aber auch schon mal sehr viel sein. Einmal habe ich ihr für neunhundert Mark Kleider gekauft, weil ich fand, daß sie die haben sollte, weil die ihr gut standen."
"Rafa würdigt Geburtstage ja sehr", meinte Tyra. "Er läßt einen hochleben ... dreimal hoch ... und man hat Narrenfreiheit an dem Tag, man darf alles, was man will."
"Was Rafa an Geburtstagen veranstaltet, finde ich nicht verkehrt", meinte ich, "aber ich habe trotzdem dabei ein schlechtes Gefühl. Es wirkt irgendwie aufgesetzt, wie eine Show."
"Ja, er dirigiert alles."
"Eben", nickte ich. "Letztlich bestimmt er alles. Wenn man an seinem Geburtstag 'Narrenfreiheit' hat und alles darf, was man will, bedeutet das doch, daß man an allen anderen Tagen das zu tun hat, was Rafa will."
"Ja, genau", bestätigte Tyra. "An seinem Geburtstag hat man Narrenfreiheit, an den anderen Tagen sieht es wieder anders aus."
"Eben, und deswegen habe ich bei Rafas Zeremonien ein schlechtes Gefühl."
Tyra schilderte die Rollenverteilung in der Zeit, als sie unter der Woche Rafa Gesellschaft leistete und am Wochenende durch Berenice ersetzt wurde:
"Rafa hat bestimmt:
'Tyra, ich zahle, und du kaufst ein. So lange mache ich hier alles schön und suche schon mal ein Video aus.'
Dann bin ich mit dem Fahrrad die zwei Kilometer bis zu 'McGlutamat' gefahren und habe die schweren Tüten und die Coladosen balanciert."
"Und er dachte natürlich gar nicht daran, dir zu helfen."
"Nein, er hat ja bezahlt."
"Und er hat bestimmt, was für ein Video ihr anguckt."
"Ja, er hat immer alles schön hergerichtet, und dann haben wir gegessen und dabei ein Video geguckt."
Joujou erzählte, daß sie eine Wohnung gefunden hat zwischen BI. und GT., wo sie mit ihrer Tochter Jeanne einziehen möchte. Joujous neuer Freund Marvel lebt bislang noch in einer Männer-WG. Das Haus wollen wir als Kulisse für unsere Foto-Lovestory verwenden.
Marvel spielte im "Roundhouse" viel Industrial und Power-Elektro, und ich war meistens auf der Tanzfläche, ebenso Joujou und Tyra.
"Constri beschreibt es so, daß sie sich beim Tanzen zu Industrial-Musik mit positiver Energie auflädt", sagte ich zu Tyra.
"So ist es auch", bestätigte sie.
"Es kommt nur noch aufs Sein an, auf die pure Lebendigkeit", beschrieb ich.
Im Morgengrauen kamen wir aus dem "Roundhouse". Auf der Rückfahrt schilderte Tyra ihre Auseinandersetzungen mit Rafa wegen Lucy. Rafa hat Tyra vorgeworfen, Lucy vor einer erneuten Mitarbeit bei W.E gewarnt zu haben.
"Lucy ist meine Freundin", erwiderte Tyra auf diese Vorhaltungen.
"Deine Freundin?" fragte Rafa hämisch. "Haha!"
"Und wir sind gemeinsam bei W.E ausgestiegen."
"Ausgestiegen? Inzwischen ist sie doch schon wieder dabei."
Dann lobte er Lucys Vorteile:
"Sie ist zuverlässig. Wenn ich sage, mach' das, dann macht die das, ohne zu diskutieren."
"Rafa hat Lucy gegen dich ausgespielt", meinte ich dazu. "Und sie ist darauf 'reingefallen. Wahrscheinlich hat er sie überschwenglich gelobt und sie inständig gebeten, wieder bei W.E mitzumachen, und da hat sie darüber hinweggesehen, wie schlecht er sie behandelt hat, und ist darauf eingegangen."

Am Morgen träumte ich, Rafa habe neuerdings parallel zu Darienne eine weitere Freundin, ebenfalls ein Teenager. Tyra wußte das und erzählte es mir, Darienne wußte es aber nicht. Rafas Zweitfreundin sah ich im "Departure", sie war in Rot gekleidet. Ich sah auch Rafa mit Darienne ins "Departure" gehen. Darienne trug einen roten Offiziershut im Stil des 19. Jahrhunderts, vorne mit Schirm. Rafa kümmerte sich im "Departure" kaum um Darienne. Sie vergaß den Hut, als sie ging. Ich nahm ihn mit. Nachdem Tyra und ich in verschiedenen Locations gewesen waren, brachte ich Tyra nach Hause und fuhr noch einmal zum "Departure". Drinnen war alles still. Ich ging durch das menschenleere Bistro und kam von dort aus in einen langgestreckten Flur mit weiß lackierten hölzernen Wohnungstüren, den es in Wirklichkeit nicht gibt. An der Tapete stand der Name der Straße, in der Darienne früher mit ihren Eltern gewohnt hat. Anscheinend hielt sie sich nun wieder bei ihnen auf, denn vor einer der Wohnungstüren sah ich einen Hocker stehen, auf dem lag ein Poster mit der Rückseite nach oben, darauf war in einer Ecke Dariennes Nachname geschrieben, in Zierschrift, und der Stil dieser Schrift paßte zu Darienne. Jemand hatte auf dem Poster "eingedeckt", mit einem Pappteller, einem Plastikbecher und Plastik-Besteck. Daneben stand in Rafas Schrift mit einem Edding geschrieben:
"Eine junge, neue CD!"
Eine selbstgebrannte, unbeschriftete CD war halb unter den Pappteller geschoben worden. Fürsorglich-umwerbend hatte Rafa für Darienne etwas vorbereitet, das sie finden sollte, wenn sie aus der Tür kam. Vielleicht wollte er damit über seine Untreue hinwegtäuschen. Ich stellte Dariennes Hut auf den Pappteller, um ihn ihr auf diese Weise zurückzugeben. Dabei fiel der Plastikbecher vom Hocker.
"Was soll's", dachte ich, "irgendetwas wäre sowieso 'runtergefallen, alles hätte auf dem Hocker nicht Platz gehabt."
Dann ging ich weiter durch den Flur, bis ich hinaus auf die Straße kam, und fuhr nach Hause.

Am Sonntag waren Constri, Denise und ich mit meiner Mutter, Wilf, meiner Tante Britta, ihrem Mann Wilko und ihrem Sohn Corell auf dem Friedhof in Awb., um am Grab meiner Großmutter Emmy ihren hundersten Geburtstag zu würdigen. Ihr Geburtstag ist erst im Juni, doch aus Termingründen wurde die Gedenkstunde vorverlegt. Denise goß fleißig Emmys Grab.
"Wenn ich tot bin, gießt du mich dann auch?" fragte Denise, zu Constri gewandt.
"Ja", antwortete Constri, "aber das soll gar nicht passieren."
Denise blieb unbekümmert:
"Wenn ich tot bin, bin ich dann im Himmel, und gucke ich dann 'runter?"
"Ja", antwortete Constri, "aber das soll gar nicht passieren. Wenn ein Kind stirbt, das ist das Allerschlimmste für eine Mutter, das soll nicht passieren."
Constri hatte den Einfall gehabt, zu Emmys hundertstem Geburtstag meine Mutter und ihre zerstrittenen Geschwister wieder zusammenzubringen. Die beiden Brüder waren verhindert, haben jedoch den Wunsch nach einem dauerhaften Frieden mit allen Geschwistern kundgetan. Endlich versteht sich meine Mutter mit ihrer Schwester Britta wieder besser. Emmy hat früher stets darauf geachtet, daß es unter ihren Kindern friedlich zuging. Allerdings wurde über Konflikte nie gesprochen, sie wurden nur unter den Teppich gekehrt. Der Frieden war eine Fassade. Als die Kinder erwachsen waren und die Konflikte offen ausbrachen, litt Emmy darunter, verstand jedoch nicht, wie es dazu kommen konnte. Sie hatte selbst nie über Konflikte gesprochen und anscheinend auch nie darüber nachgedacht. Das rächte sich nun.
Bei meiner Mutter schauten wir uns Super 8-Filme an, die Wilko in den siebziger Jahren gedreht hat. Wilko hat bei Emmy gefilmt, bei uns und bei sich zu Hause. Wilkos Familie lebte damals in BN. in einem verwunschen wirkenden Haus, das mit viel Holz gebaut war. Man mußte von der Straße aus eine lange, steile Treppe hinuntergehen, zwischen wild wachsendem Grün hindurch, um zu dem Haus zu kommen. Weiter hangabwärts, im hinteren Teil des Gartens, standen hohe Haselsträucher, und am untersten Ende gab es ein Schaukelgestell.
Wilko zog Anfang der achtziger Jahre aus beruflichen Gründen mit seiner Familie nach S. Britta meinte, sie habe das Haus in BN. gemocht, es sei aber recht eng gewesen, die Zimmer seien klein gewesen und die lange Treppe hinunter zum Haus beschwerlich, wenn man Einkaufstüten oder einen Kinderwagen transportieren mußte.
Britta und Wilko hatten Erinnerungsstücke mitgebracht, Briefe und Fotoalben von Emmy. In einigen Alben war Emmy als junges Mädchen zu sehen, mit ihren Freundinnen. Viele von Emmys Freundschaften haben bis ins hohe Alter Bestand gehabt.
Corell erzählte, daß er mit seiner Freundin Talia immer noch eine Fernbeziehung zwischen Deutschland und Spanien führt. Das wird wohl auch so bleiben, vor allem aus beruflichen Gründen.
Ende Mai hütete ich Denise und las ihr Bücher aus meiner eigenen Kindheit vor. Unter diesen Büchern war eines mit Kinderreimen. Constri und ich haben viele Bilderbücher zerrissen, auch in diesem Buch fehlte ein Stück von einer Seite. Zwei Abzählreime waren deshalb nicht mehr zu lesen. Als meine Mutter Denise abholte, zeigte ich ihr das Buch, und sie konnte sich anhand der Bilder, die noch erkennbar waren, an den Wortlaut der Abzählreime erinnern. Einer lautete:

Jakob hat kein Brot im Haus.
Jakob macht sich gar nichts draus.
Jakob hin, Jakob her,
Jakob ist ein Zottelbär.

Der andere, welcher auf der Rückseite stand, lautete:

Geh zur Schule, lerne was.
Wenn du was gelernet hast,
komm nach Haus und sag mir was.
Eins, zwei, drei, du bist frei.

Als ich meine Mutter wegen ihres Gedächtnisses bewunderte, meinte sie:
"Ach, wenn man das viele tausend Male immer wieder ..."
Denise läßt sich sehr gerne vorlesen. Sie wollte gar nicht wieder weg.
Mit Azura unterhielt ich mich in E-Mails über den kreativen Umgang mit Barbie-Puppen. Ich schrieb:

Meine Schwester und ich hatten schon als Kinder die dämlichsten Ideen. Unseren Barbies haben wir mit einem nassen Taschentuch die Beine gegipst, und dann sind wir mit ihnen durch die Gegend gerannt und haben "Tatütata!" gerufen. Meinen Barbies habe ich mit Knetgummi Reizwäsche anmodelliert. Ich hatte einen Barbie-Galgen und einen Barbie-Katafalk, und ich habe aus Pappe eine Mini-Guillotine gebastelt. Später, als Erwachsene, haben wir Barbie-Beine mit einem Stromkabel gebündelt an die Decke gehängt, Barbies an die Heizung gekettet etc.

Azura schrieb:

Ja, das Mißhandeln von (Barbie)-Puppen kenne ich auch noch aus meiner Kindheit. Bei mir waren die Barbies immer Harpyien oder Hexen. Ich habe sie mit Edding tätowiert, ihnen Puppenmesser umgeschnallt und ihnen Fetzen angezogen und die Haare zu absurden Frisuren aufgetürmt. Und ich hatte auch eine oder zwei richtige Puppen, die ich aufhängen wollte (ich hatte einen lebensgroßen Galgen vom Schrank baumeln, und meine Mutter war entsetzt und hat sich immer für mein Zimmer geschämt, wenn Besuch kam), aber da hat Mutter sie mir weggenommen ...
Das "Sofa des Grauens" klingt ja auch interessant. Als ich noch Geschichten geschrieben habe, habe ich auch mal eine Horrorstory einer Freundin gewidmet, die Probleme damit hatte, die Überreste von Hasenbraten wegzuwerfen. Da hab ich eine Story über einen Hasenbratenzombie geschrieben, der nachts aus dem Mülleimer kommt, sich wieder zusammensetzt und sich an den Leuten rächt, die ihn gegessen haben ... Meine Freundin hat mich echt gehaßt dafür. :D

Das Comic "Sofa des Grauens" habe ich während meiner Arbeit an "Sulos Tonnenwelt" online gestellt.
Wave mailte, daß Shannon ihn verlassen hat. Er war untröstlich und konnte nicht mehr schlafen. Er schrieb:

Es heißt ja, dass Zeit alle Wunden heilt. Nur was ist, wenn man ein Bluter ist?

Ich schrieb, er werde sicher bald ein anderes Mädchen finden. Daran konnte Wave nicht glauben ... vorerst nicht.
Irmin und Jana berichteten, daß ihr Sohn Garret noch immer an einem religiösen Wahn leidet. Er hat viele Fachbücher weggeworfen, auch seine eigene Doktorarbeit hat er weggeworfen. Wahn ist schwer behandelbar.
In E-Mails unterhielt ich mich mit Berenice über Rafas ehemalige Freundinnen und Gespielinnen. Berenice erzählte, daß Rafa über Lara lästerte. Lara war von zehn Jahren in Rafa verliebt. Rafa wollte sie jedoch nur als Gespielin und nicht als Freundin. Als Grund gab er an, daß er mit Laras Figur nicht zufrieden war. Während Lara noch auf Rafa hoffte, verführte er Laras damalige beste Freundin Nadine und war mit ihr ein halbes Jahr zusammen, ehe er sie wieder fallenließ. Rafa lästerte auch über Nadine. Er behauptete, an Nadine habe ihn gestört, daß sie nie etwas sagte. Dazu schrieb ich an Berenice:

Weißt du, was Rafa vor zehn Jahre über Nadine gesagt haben soll?
"Meine Freundin hat gar nichts zu sagen, meine Freundin hat nur das Maul zu halten!"
Rafa wollte gar nicht, daß sie den Mund aufbekam!!

Berenice erinnerte sich, Nadine einmal gesehen zu haben, als Rafa mit ihr im "Lepra" war. Rafa zeigte ihr Nadine, sprach sie aber nicht an. Berenice erzählte von der damaligen Zeit:

Rafa hat gejammert, dass Lara mal seine beste Freundin war. Dann hätte er sich aber in Nadine verliebt, und das fand Lara wiederum so schlimm, dass sie sich mit Rafa verkracht hat ...

Auf der Website von H.F. gibt es ein neues Interview. Darienne erklärt, bei H.F. gehe es darum, "Neues zu erschaffen und Defizite zu füllen". Zudem sei H.F. auch "aus der Inkompetenz der Anfangsband Das P." entstanden. Rafa ergänzt, jede weitere Zusammenarbeit mit Das P. sei "zwecklos". Darienne behauptet:

Wir erschaffen den NEUEN MENSCHEN! Mehr Innovation kann es eigentlich gar nicht geben. Wir sind anders, neu und wer z. B. ein H.F.-Konzert miterlebt hat, wird wissen, wovon ich rede ...

Das weiß man in der Tat. Im "Lost Sounds" spielte H.F. mehr Titel von W.E und Das P. als von H.F. selbst.
Zu den Eigenschaften des "Neuen Menschen" sagt Herr Lehmann:

Das Aussehen spielt hier wahrscheinlich nur eine sekundäre Rolle, obgleich der Mensch der Zukunft natürlich gesund und voller Kraft sein muss. Primär geht es aber um eine mentale Evolution ... In erster Linie sollte der neue Mensch nach der Ausrottung des Homo sapiens dessen Fehler neutralisieren.

Welches Bandmitglied von H.F. die "Ausrottung des Homo sapiens" übernehmen will und auf welche Weise sieben Milliarden Menschen umgebracht werden sollen, dazu äußert sich H.F. nicht. Auch auf die Frage, welcher Spezies sich die Bandmitglieder selbst zurechnen und durch welche Gen-Sequenzen sie sich vom Homo sapiens unterscheiden, findet man in dem Interview keine Antwort.
Rafa äußert sich zu der moralischen Haltung des "Neuen Menschen":

Der Mensch quatscht von Individualismus, Idealen und Menschlichkeit doch eigentlich nur, um seine Existenz damit zu überdecken. Ein neuer Mensch würde diese Tugenden wohl eher praktizieren!

Damit soll wohl gemeint sein, daß die Menschen zwar von Moral reden, aber nicht danach leben. Der "Neue Mensch" würde laut Rafa nach moralischen Vorstellungen leben. Was Rafa unter Moral und Tugenden versteht, ist aus seinen Äußerungen nicht eindeutig abzuleiten. Würde man H.F. beim Wort nehmen, würde Moral bedeuten, daß man sieben Milliarden Menschen umbringt. Moral wäre gleichbedeutend mit Massenmord.
Rafa redet in dem Interview in sehr unterschiedlicher Weise über Sexualität. Einerseits betont er sein Recht, sich in der Gossensprache auszudrücken. Andererseits erhebt er Sexualität zu etwas Mystischem:

Nicht zu vergessen, dass wir gerade von dem Schönsten, was wir haben, sprechen, drum wahren wir seine Mystik auch weiterhin!

Man bedenke, daß Rafa das "Schönste, was wir haben" mit beliebig gegeneinander ausgetauschten Mädchen praktiziert - und auf einem Sofa, dessen hygienischer Zustand kaum vorstellbar ist.
Darienne empfiehlt abschließend in dem Interview,

sich für den Kampf gegen den Neuen Menschen zu stärken, also macht Eure Körper topfit, Eure Seelen rein und Euren Geist göttlich!

Weshalb nun auf einmal gegen und nicht mehr für den "Neuen Menschen" gekämpft werden soll und wer jetzt eigentlich gegen wen kämpfen soll, bleibt unklar. Und warum die Menschen, die laut H.F. ausgerottet werden sollen, sich ausgerechnet deren Konzerte anhören sollten, bleibt ebenfalls unklar.
Die Drei von H.F. verabschieden sich von ihren Fans mit dem Ratschlag:

Denke über Dich nach - Höre Dich selbst!

Gegen diese tiefgründige Weisheit kommt auch das antike "Erkenne dich selbst!" kaum an.
Berenice meinte zu dem Interview:

Da verschlägt's einem glatt die Sprache, bei soviel Unsinn!

Ich spielte auf Rafas Nikotinkonsum an:

Gesund soll der "neue Mensch" sein ... und fünfzig Zigaretten täglich rauchen?

Berenice schrieb:

Ja, uns fällt das auf - aber wem noch??? Ich glaube, wenn Rafa immer und immer wieder erzählt, dass alles so toll läuft und alles so toll ist, was H.F. machen, dann glauben das die Leute sicher auch irgendwann ...

Als "Circe" schrieb ich in das Online-Gästebuch von H.F.:

Honey über Sex: "... drum wahren wir seine Mystik auch weiterhin!"
Klar, Sex in der Damentoilette ist was sehr Mystisches, nicht wahr, Honey?? Vor allem, wenn man auf diese Weise seine Freundinnen betrügt.
Und besonders für Plastik ist es was sehr Mystisches, nie zu wissen, womit sie sich ansteckt ... noch dazu auf einem total vergammelten Sofa, das immer nur mit Febreze "gereinigt" wird ...

Als "Heli" schrieb ich:

Wenn ich nicht Wichtigeres zu tun hätte, würde ich ein wenig mitmachen bei den hinreißenden Streits im W.E-Forum und H.F.-Forum. Aber ich muß mich um meine eigenen Projekte kümmern.

Rafa löschte diese Einträge. Im Laufe der folgenden Wochen häuften sich Bot-Spams mit undurchsichtiger Reklame im H.F.-Gästebuch. Rafa stellte das Gästebuch schließlich offline.
In den Medien gibt es noch mehr Äußerungen von Rafa über H.F., die ähnlich klingen wie das Interview:

Ist in der realen Zukunft eigentlich noch Platz für den Homo sapiens? Schreit diese ganze Erde nicht schon längst nach einer neuen Krone der Schöpfung? Etwas, was endlich mit Natur und Umwelt auf gleicher Stufe und im Einklang steht! So sollte der Mensch selbst diese neue Kreatur schaffen und so mit zeigen, dass er sogar über seine eigene Existenz hinaus, sein Dasein als "Fehler der Natur" wieder in Lot des Lebens bringt.

Rafa will "den Fehler Mensch beseitigen", um "Platz zu schaffen" für den "Menschen der Zukunft". Zwar soll der "mit Natur und Umwelt auf gleicher Stufe und im Einklang" stehen, doch:

Die Begleitmusik zu einem solchen Vorgang erzwingt den Gebrauch von synthetischen Klangerzeugern. Die Texte zu dieser Musik verlangen nach einer konsequenten Infragestellung des eigenen Egos. Um einen Pathos entstehen zu lassen, welcher eigentlich nicht mehr von Menschenhand erschaffen ist.

"Pathos" ist sächlich: das Pathos. Rafa verwendet Fremdwörter gerne, aber häufig falsch.
Wieder einmal verteilt er Seitenhiebe gegen Das P.:

Durch den anfänglich gescheiterten Versuch im Jahre 2003 mit der sogenannten Band "Das P." ist nun in dieser neuen Formation das Projekt H.F. entstanden. Durch klare, künstliche Sequenzen, synthetische Klänge und eben diese zuvor genannte Zielsetzung in Form strukturierter Texte wird so mit der neue Mensch geschaffen.
H.F.: Ein Lebensgefühl, welches das eigene Sterben voraussetzt!

Hierzu könne man Rafa fragen, warum er sich nicht gleich umbringt, um schneller "erneuert" zu werden.
Xenon führte im Internet-Radio ein Interview mit H.F. Rafa betonte, bei H.F. erschaffe man "den neuen Menschen wirklich neu". Laut Rafa stauen sich Aggressionen "in der heutigen Zeit durch Medien und Computerevolution" an. Daß es auch schon vorher Aggressionen gegeben hat, ist Rafa entweder nicht bewußt - oder er sieht darüber hinweg, um sein Weltbild aufrechtzuerhalten.
Rafa empfiehlt das Hören der Musik von H.F. als Alternative zum Amoklauf.
Die Musik von H.F. soll laut Rafa grundsätzlich jeden ansprechen, ausgenommen sind jedoch "Idioten und jeglicher menschlicher Ballast". Das würde bedeuten, daß potentielle Amokläufer nicht zu der Kategorie "Idioten und menschlicher Ballast" gehören.
Am ersten Juniwochenende fuhren Constri, Tyra und ich morgens nach L. zum Pfingstfestival. Ehe es losging, trafen wir uns bei mir. Die vielen Bilder von Rafa an meinen Wänden wurden von Tyra aufmerksam betrachtet. Sie meinte, es sei schade, daß es kein Bild von Rafa und mir gebe. Ich zeigte ihr Fotos von der "Salix", wo Rafa und ich beide zu sehen sind.
"Aber nicht nebeneinander", bedauerte Tyra.
"Das will er ja auch partout nicht", erklärte ich.
Tyra schlug vor, ich könne mich neben das DJ-Pult stellen, wenn Rafa auflege, dann seien wir nebeneinander zu sehen.
"Eben das will er ja verhindern", entgegnete ich. "Als ich mich im Sommer 2004 neben das DJ-Pult gestellt habe, damit Isis uns beide nebeneinander fotografiert, ist Rafa schnell zur Seite gegangen, so daß Xentrix zwischen uns stand."
"Ach."
Tyra erzählte von Bibians Geburtstag vor wenigen Tagen. Tyra kam nachts in den "Keller" und begegnete dort Rafa und Anwar. Die beiden unterhielten sich, während Tyra auf der Toilette war. Tyra hörte ihrem Gespräch zu.
"Nimmst du sie mit?" fragte Anwar.
"Weiß noch nicht", kam es von Rafa.
"Aber ich denke, du liebst sie", erwiderte Anwar, "dann nimm sie doch mit."
"Ach, das hat doch damit nichts zu tun."
Schließlich sagte Rafa:
"O.k., ich nehm' sie mit."
Tyra kam aus der Toilette, und Rafa sagte zu ihr:
"Gehn wir."
Sie begaben sich in Rafas Behausung. Anstatt sich um Tyra zu kümmern, ging Rafa als Erstes an einen seiner Computer und begann zu spielen.
"Er macht das immer so", sagte Tyra dazu, "immer wenn wir uns näherkommen, muß er erstmal spielen."
Tyra übernachtete bei Rafa im Bett. Morgens wollte Rafa ein Schäferstündchen. Tyra baute die Decke als Barriere vor sich auf.
"Was machst'n?" tat Rafa verständnislos. "Was is'n?"
"Ich schütze mich gerade vor allen möglichen Krankheiten", erklärte Tyra.
"Wieso Krankheiten?" fragte Rafa.
"Du hast mich doch schon mit allem Möglichen angesteckt", entgegnete Tyra.
"Das kann doch auch von jemand anderem sein", redete Rafa sich heraus.
"An deiner Stelle würde ich schleunigst zum Urologen gehen", riet Tyra.
Auf der Fahrt berichtete Constri, daß Giuliettas ehemaliger Freund Cyprian gestorben ist, im Alter von nur vierundvierzig Jahren. Er soll auf einmal tot umgefallen sein. Die Todesursache sei noch unklar.
"Wenn er kein Trinker gewesen wäre, hätte er ein großer Schauspieler werden können", meinte Constri. "Es ist wirklich schade."
Cyprian war der Sohn eines Kabarettisten und Mitglied einer Punk-Band namens Abstürzende Brieftauben. Cyprian spielte in Giuliettas Film "Das Grauen in der Gneisenaustraße" die Hauptrolle, einen eigenbrötlerischen, zwanghaften, zurückgezogen lebenden jungen Mann in ältlicher Garderobe. Cyprian stellte die Spießer-Klischees so glaubwürdig dar, daß ich mir kaum vorstellen konnte, daß es sich tatsächlich um Cyprian handelte, der im wirklichen Leben nie mit nass gekämmten Haaren und gestärktem Hemdkragen herumgelaufen wäre.
Wir unterhielten uns über Musiker vor und hinter der Bühne. Tyra erzählte von Rafas herrschsüchtigem Verhalten bei W.E. Vor Interviews habe er den Bandmitgliedern eingeschärft, sie dürften nichts sagen, nur er allein dürfe reden. Wenn Bandfotos gemacht wurden, habe er die Bandmitglieder in Posen aufgestellt, ähnlich wie man Puppen anordnet. Er habe den Bandmitgliedern befohlen, möglichst unbeteiligt und ausdruckslos zu wirken.
Darius hat Rafa 2003 in seine Band Das P. geholt, ohne zu ahnen, daß Rafa sich in der Band schon bald zum Chef aufschwingen würde. Rafa verstieg sich sogar dazu, Darius vorschreiben zu wollen, was er in Interviews sagen dürfe und was nicht. Wie die Geschichte ausging, ist bekannt - Rafa wurde zwei Jahre später aus der Band hinausgeworfen.
Tyra erzählte, daß die Bandmitglieder bei W.E nie echte Instrumente spielen. Die Trommeln, auf die die Damen einschlagen müssen, sind bei Konzerten nicht zu hören, weil sie nicht angeschlossen sind. Das Keyboard, an dem Dolf steht, ist ebenfalls ohne Strom.
Tyra erzählte von Donovan, der auf der Tour nach HD. und Barcelona für Dolf eingesprungen ist. Als Tyra noch Mitglied bei W.E war und wieder einmal von Rafa angeschrien wurde, meinte Donovan, das sei nicht nett von Rafa, der könne wirklich schlimm sein, "aber es ist eben Rafa" - nach dem Motto:
"Der darf das, weil er Rafa ist."
Als Tyra wieder einmal weinte, weil Rafa sie beschimpft und angeschrien hatte, sagte Donovan im Vorbeigehen zu ihr:
"Na, kleiner Pfirsich? Weinst du wieder?"
Tyra hätte Donovan am liebsten eine 'runtergehauen, doch fand sie die nötige Wut und die nötige Kraft nicht. So sei es auch gewesen, als sie im Februar des vergangenen Jahres Darienne auf Rafas Sofa vorfand. Sie habe zuhauen wollen, aber ihre Kraft habe sie verlassen.
Tyra erzählte von den abenteuerlichen Rechtfertigungen, die Rafa sich für seine Beschimpfungen und Beleidigungen einfallen läßt. Als Tyra ihn neulich wieder darauf ansprach, daß er sie im vergangenen Dezember beim Tischfußballspielen mit "Dreck" betitelte, erklärte Rafa, das sei deshalb nicht wörtlich zu verstehen gewesen, weil die Bezeichnung "Dreck" in einem Kinder-Hörspiel als Scherzname vorkomme und Kappa und er sich gerne zum Spaß mit "Dreck" angesprochen hätten, als Kosewort sozusagen.
Tyra hat Rafa erzählt, daß sie zu Pfingsten mit mir nach L. fährt.
"Ach, mit Elobe", sagte er dazu. "Dann paß mal bloß auf."
"Warum soll ich aufpassen?"
"Ach, nur so."
Als Tyra neulich die Geschichte "Im Netz" bei Rafa aus dem Internet herunterladen wollte, wehrte er ab:
"So einen Sch... lade ich nicht auf meinen Rechner."
"Aber ich will sie gerne lesen."
"Sowas muß man nicht lesen."
"Wir sind aber Teil davon."
"Ich bin nicht Teil davon", verneinte Rafa die Tatsache, daß er in der Geschichte die Hauptrolle spielt.
Rafa monierte, es störe ihn, daß Tyra anderen Menschen etwas über ihn erzähle. Er könne ihr nicht vertrauen. Tyra entgegnete, sie erzähle keineswegs alles, was sie über ihn wisse, sondern nur das, was relevant sei.
Rafa hat Tyra immer wieder Hoffnungen auf eine dauerhafte Beziehung gemacht, indem er gemeinsame Zukunftspläne schmiedete - wie er sie zeitgleich auch mit Berenice geschmiedet hat. Zu beiden Frauen sagte er, er wünsche sich Kinder von ihnen. Während Berenice dieses nachdrücklich ablehnte, antwortete Tyra auf seinen Kinderwunsch:
"Ja, aber nicht heute. Ich will erst meine Ausbildung zuende machen."
"Ausbildung ist wichtig", betonte Rafa. "Das mit W.E wird nicht ewig weitergehen, und wenn wir verheiratet sind, gehst du arbeiten, und ich kümmere mich um die Kinder."
Hierzu fällt mir ein, daß Rafa in Ivcos Partykeller gesagt hat, es sei nicht sein "Style", die Rolle des Hausmanns zu übernehmen.
Tyra erzählte, Rafa sei Kindern gegenüber sehr unsicher. Er verhalte sich hölzern und schüchtern und versuche, Kinder wie Erwachsene anzusprechen. Er behaupte, daß er die Kindersprache nicht leiden könne.
Tyra hat viele Cousins und Cousinen, die noch allesamt im Kindesalter sind. Hierdurch ist Tyra den Umgang mit Kindern gewohnt. Einer von Tyras kleinen Cousins betrachtete mißbilligend Rafas Sonnenbrille und verlangte von Rafa:
"Setz' doch endlich mal diese doofe Brille ab, du siehst ja gar nichts."
"Äh - nee", antwortete Rafa steif und kurz angebunden.
Tyra glaubt inzwischen, daß Rafa überhaupt nicht heiraten wird.
"Wo würde der eine Ehe führen wollen?" überlegte ich. "Er kann sich nicht mal eine eigene Wohnung leisten."
Tyra erzählte, daß Rafa sich daheim an den laufenden Kosten beteiligt, jedoch für die Räume, die er bewohnt, kaum Miete zahlt.
"Wenn er Miete zahlen müßte, könnte er sein Leben nicht mehr finanzieren", vermutete ich.
Tyra erzählte von Rafas Doppelleben mit ihr und Darienne. Rafa habe Tyra gegenüber bis zum letzten Herbst geleugnet, mit Darienne zusammen zu sein. Er habe behauptet, Darienne sei nur eine "spezial-gute Freundin" von ihm.
Tyra glaubt, Darienne hätte schon weit eher als im letzten Sommer merken müssen, daß zwischen Rafa und Tyra etwas lief. Mitte Januar des letzten Jahres habe Tyra nach unserer Begegnung im "Byzanz" erst Rafa nach Hause gefahren, dann Darienne, und danach sei sie wieder zu Rafa gefahren. Als Rafa ausstieg, habe er Tyra geküßt und gezwitschert:
"Tschüß, mein Schatz. Ich mach' hier schon mal alles gemütlich."
In L. trafen wir Wave. Er ließ Tyra während des Festivals in seinem Zelt übernachten. Wave klagte sehr, weil seine Freundin Shannon ihn verlassen hat. Sie sei die Frau seiner Träume. Inzwischen soll sie einen anderen Freund haben.
Tyra gab Wave ihre Isomatte und ihren Schlafsack mit und fuhr mit Constri und mir zu der Pension, wo Constri und ich wohnten. Während Constri sich in unserem Zimmer ausruhte, fuhren Tyra und ich zum "Memento Mori", wo Rafa auflegen und Autogramme geben wollte. Einige Tracks von seinem noch immer nicht veröffentlichten Album "Chaos Total" sollten bei dieser Gelegenheit vorgestellt werden.
Das "Memento Mori" befindet sich in einem langgestreckten Kellerraum und ist mit vielen Sitznischen und Podesten ausgestattet. Die Wände sind geschmückt mit mystischen Bildern und roten Mustern. Einige der schwarzen Tische und Simse haben die Form von Särgen. Man kann auf Barhockern und Polsterbänken Platz nehmen. Die Betreiber haben die Location gepflegt und schick eingerichtet. Allerdings finde ich die Tanzflächen viel zu klein.
Im "Memento Mori" trafen Tyra und ich Scharen von W.E-Fans. Wer fehlte, war Rafa. Tyra erkundigte sich beim DJ, wo Rafa geblieben war, und sie erfuhr, er habe abgesagt mit der Begründung, er sei krank.
"Das glaube ich nicht", sagte ich zu Tyra. "Ich denke, Rafa hat geschwänzt. Vielleicht fürchtet er sich vor seinen Fans, weil er sein Album immer noch nicht fertig hat. Vielleicht fürchtet er sich auch vor uns."
Tyra meinte, es könne durchaus sein, daß es Rafa wirklich schlecht ging und er deshalb nicht erscheinen konnte. Manchmal gehe es ihm seelisch schlecht, und dann ziehe er sich zurück und wolle niemanden sehen.
Wave erzählte, das Label, bei dem Rafa unter Vertrag steht, drohe ihm mit Kündigung, weil er immer noch nicht das neue W.E-Album "Chaos total" abgeliefert habe. Das Label sei auch deshalb so ungehalten, weil schon vor einem Jahr viel Werbung für das Album gemacht worden sei und viele "Chaos total"-Fanartikel hergestellt worden seien, ohne daß das beworbene Produkt auf dem Markt erschienen sei.
Tyra erzählte mir, Rafa spreche mit niemandem über seine berufliche Situation, auch mit ihr nicht. Vermutlich habe Wave seine Informationen von W.E-Fanclub-Betreiber Valerien erhalten, der mit dem Label im Kontakt stehe.
W.E-Forum-Mitglied Aramis begrüßte mich und meinte, es sei schön, daß wir uns endlich mal persönlich begegneten.
Tyra ist bei den W.E-Fans immer noch beliebt, obwohl sie nur ein Dreivierteljahr lang Mitglied bei W.E war. Die Fans im "Memento Mori" kümmerten sich sehr um Tyra und schienen sie sehr zu verehren. Sie sagte später zu mir, es sei ihr unangenehm, wie eine Göttin behandelt zu werden.
Im "Memento Mori" liefen während der Veranstaltung fast nur Stücke von W.E. Gemeinsam mit fünf anderen Fans führte Wave auf der Tanzfläche einen "Fahnentanz" auf, eine Performance, die eigentlich Rafa zu Ehren stattfinden sollte. Wave und zwei andere Fans hatten große weiße, mit schwarzen W.E-Emblemen bedruckte Fahnen gebastelt, die sie auf der Tanzfläche schwenkten, als ein Lied von dem Album "Chaos total" lief, "Hoch die Fahnen". Jeweils zwei Fans hielten eine Fahne.
Tyra erzählte, daß es sich bei "Hoch die Fahnen" um jenes Lied handelt, das Rafa dieses Jahr im März für Tyra gemacht hat und das Darienne mit ihm einspielen mußte, ohne zu wissen, daß es für Tyra bestimmt war. Der Refrain wird von Darienne gesungen; ihre Stimme ist gefiltert, überlagert und mit Hall-Effekten nahezu unkenntlich gemacht. Die Stimme verschwindet durch die umfangreiche Bearbeitung ebenso, wie Dariennes Gesicht unter ihrem mehrlagigen Makeup verschwindet. Der Text des Refrains lautet:

Hoch die Fahnen! Heut sterben wir für ein neues Land.
Doch kämpfen wir nicht schon viel zu lang an der falschen Front?

"Rafa kämpft nicht", meinte Tyra. "Das stört mich an dem Text."
"Das stimmt, er kämpft nicht", bestätigte ich. "Er läßt sich gehen. Er überläßt sich seinen Launen."
Rafa stellt seine Entschlußlosigkeit als Kampf dar, obwohl eben diese Entschlußlosigkeit Ausdruck seiner Haltung ist, Konflikten aus dem Weg zu gehen und sich nach seinen augenblicklichen Bedürfnissen zu richten.
Musikalisch erinnert "Hoch die Fahnen" sehr an den Clubhit "Eclipse" von Kirlian Camera, ein Stück, das Rafa unzählige Male gehört und selbst aufgelegt hat. "Hoch die Fahnen" wirkt auf mich ähnlich nachgemacht wie "Arbeit adelt!" (nach "Wahre Arbeit, wahrer Lohn" von den Krupps) oder "Wir wollen keine Menschen sein" (nach "Engel" von Rammstein), ohne daß es einer Coverversion im engeren Sinne entspricht. Der Titel ("Hoch die Fahnen!") läßt allerdings an das Horst-Wessel-Lied denken ("Die Fahne hoch!"), eine gesetzlich verbotene Hymne der Nazis. Daß Rafa einen solchen Titel gewählt hat, kann damit zusammenhängen, daß die Nazi-Hymne eine Machtdemonstration darstellt und Rafa sich selbst unbeschränkte Macht und Kontrolle wünscht. Rafa ist kein erklärter Rechtsradikaler, doch gibt er manchmal Äußerungen von sich, die in diese Richtung weisen. Darienne hingegen soll schon eindeutig rechtsradikale Äußerungen von sich gegeben haben, wie etwa auf jener Autofahrt, als sie rief:
"Macht Platz für die Arier!"
Spätabends waren Tyra und ich mit Constri unterwegs, die inzwischen Ausgehgarderobe trug. Meine Mutter hat für Constri ein zierliches Kleid aus dunkelrot-schwarz changierendem Taft genäht, ärmellos, mit Stehkragen, oben schmal geschnitten und mit ausgestelltem Röckchen, das oberhalb der Knie endet. Zu diesem Kleid hat Constri einen schwarzen Baumwollmantel gekauft, ebenfalls tailliert und kurz. Das Kleid und den Mantel hat Constri silbern besticken lassen mit der URL ihrer Internetpräsenz. Sie hat den Ehrgeiz, als selbständige Filmemacherin tätig zu sein.
Wir bummelten durch die Messehalle mit den vielen Verkaufsständen, die es jedes Jahr beim Pfingstfestival gibt. Überall trafen wir Bekannte. In der Festival-Lounge setzten wir uns zum Essen. Dort liegen die Tische voller Flyer, die für Szene-Parties, Mode, Konzerte und Bands werben. Um uns herum flanierten die Festivalgäste in ausgefallenen Kostümen. Ein Mädchen trug einen schwarzen Federhut und eine taillierte Jacke aus dunkelrotem Samt. Ein Mädchen trug einen Reifrock mit schwarzen und weißen Blockstreifen. Oben auf der Galerie fotografierten sich zwei Mädchen im grauen Uniform-Look gegenseitig, zwischen ausgestellten Fotografien.
Robin kam mit einem Mädchen des Wegs, das seine jetzige Freundin sein konnte. Er gab mir freundlich lächelnd die Hand.
"War das nicht Robin?" fragte mich Tyra.
"Ja, sicher", gab ich Antwort.
"Ach, der hat eine Freundin", bedauerte Tyra.
Am nächsten Tag schauten wir uns wieder in der Messehalle um. Wir begrüßten Auraleen, die dort ausstellte. Constri und Auraleen unterhielten sich über berufliche Selbständigkeit. Ich betrachtete die ausgefallene Mode, die es bei Auraleen auch für Herren gibt, und ich bedauerte, daß Rafa nicht bei ihr einkauft. Tyra meinte, man werde Rafa nicht dazu bewegen können, seine Garderobe derart aufzufrischen.
Eden und Claudius kamen des Wegs. Tyra unterhielt sich längere Zeit mit Eden. Claudius kaufte sich ein Oberteil im Nadelstreifen-Dekor. Die Knöpfe haben Metalleinfassungen und tragen hinter durchsichtigen Scheiben metallisch glänzende Totenschädel.
Nach ihrem Gespräch mit Eden berichtete Tyra, es gebe keine Zwistigkeiten mehr zwischen Eden und ihr. Eden habe versichert, sie habe nichts mit Rafa gehabt, nachdem sie von anderthalb Jahren im "Maximum Volume" mit ihm flirtete. Außerdem habe Eden erzählt, sowohl Rafa als auch Darienne würden behaupten, zwischen ihnen laufe es hervorragend. Tyra war geneigt, dies zu glauben.
"Du hältst den Gegenbeweis in den Händen", wandte ich ein. "Rafa ruft dich alle paar Tage an und will mit dir ins Bett. Wenn seine Beziehung mit Darienne glücklich wäre, würde er das nicht tun. Wer in einer Beziehung glücklich ist, tut so etwas nicht."
Auch in diesem Jahr kaufte ich in der Messehalle ein Korsett. Es ist aus schwarzem Lack, der mit rotem Organza bespannt ist.
Nachmittags fuhren wir zur Pension, wo Tyra unser Badezimmer nutzen konnte. Die Waschräume auf dem Zeltplatz sind nicht sonderlich komfortabel. Während wir uns für den Abend zurechtmachten, erzählte Tyra, daß sie immer eine Bibel in ihrer Handtasche mit sich herumträgt.
"Das ist ja interessant", staunte Constri. "Du hast immer eine Bibel in der Handtasche?"
Tyra erzählte, daß die Bibel ihr Glücksbringer ist und ihr in mancher Not geholfen hat. Das erste Mal habe sie das erlebt, als sie dreizehn war und der Vater ihrer jüngeren Halbschwester Lani die Familie verließ. Tyras eigener Vater verließ die Familie früh, blieb jedoch in der Nachbarschaft wohnen und hielt den Kontakt zu der ehemaligen Familie aufrecht. Tyras Mutter belog die Kinder und behauptete, Tyras Vater sei nur der Nachbar. Erst als Tyra sechzehn Jahre alt war, offenbarte die Mutter ihr, daß der Nachbar ihr Vater war. Tyra erlebte ihn nie als väterlich und fürsorglich. Lange Zeit stritt er sogar die Vaterschaft ab:
"Wer weiß, mit wem deine Mutter sich 'rumgetrieben hat."
Tyra erlebte Lanis Vater als eigentliche Vaterfigur. Als er ihre Mutter verließ, fühlte auch Tyra sich verlassen. Tyras Mutter konnte den beiden Töchtern in dieser Zeit keine Stütze sein. Tyra erinnert sich noch daran, wie ihre Mutter weinend auf dem Fußboden lag, unfähig, sich um die Not der Kinder zu kümmern. Eine Freundin der Mutter sprang helfend ein. Tyra schlug die Bibel wahllos auf und kam auf eine Stelle, die ihr Stütze und Hilfe war:

Alle eure Sorge werft auf ihn, denn er sorgt für euch.
1. Petrus 5,7

Tyra liest nicht nur in der Bibel, wenn sie in Not ist, sondern auch, wenn sie im Zug sitzt oder irgendwo warten muß. Ganz durchlesen werde sie die Bibel wohl nie, aber einige Passagen seien auch nicht so interessant.
Rafa hat auch einmal wahllos die Bibel aufgeschlagen, nämlich als er einen Spruch für meinen Geburtstag suchte, im Jahr 1996, als Tyra dreizehn wurde:

Ein Jegliches hat seine Zeit, und alles Vornehmen unter dem Himmel hat seine Stunde. Geboren werden und sterben, pflanzen und ausrotten, was gepflanzt ist.
Prediger 3, 1 - 2

Bevor Tyra, Constri und ich zum "Memento Mori" fuhren, fotografierten wir uns gegenseitig im Hof der Pension vor einer Hecke. Im "Memento Mori" gefiel uns die Musik; unter anderem tanzten wir zu "Die Tamtams klopfen nicht mehr" von Noisuf-X und "This shit will fuck you up" von Combichrist. Dann gingen wir in die nahegelegene Bastei zum Abendessen. Als wir uns über die Wirksamkeit von Flyerwerbung unterhielten, entdeckten wir auf unserem Tisch einen Flyer, der einen Pfingstgottesdienst am Sonntagnachmittag ankündigte, als Begleitprogramm zum Festival. Tyra hatte von diesen Gottesdiensten schon gehört und lobte sie sehr. Die Veranstalter sind junge Leute, die der Religion ein modernes Gesicht geben wollen. Wir beschlossen, zu dem Gottesdienst zu gehen.
"Das hat der Flyer schon mal gebracht", folgerte Constri.
Wir fuhren zur Messehalle, schauten Konzerte an und bestaunten Kostüme. Ein Mädchen sah ich mit einer Tournüre aus raffiniert geknülltem weißem Organza. Ich fragte mich, wie der Faltenwurf hergestellt war.
Rufus und Geneviève begegneten uns. Sie bestellten bei Constri ein Hintergrund-Video für einen Auftritt von Derek.
Nachts war es im "Memento Mori" zu voll zum Tanzen, also gingen wir in die Bastei, wo T.D. auflegte, in der größten Area im zweiten Untergeschoß. T.D. spielte fast ausschließlich rhythmischen Industrial aus verschiedenen Epochen; "Slogun" von SPK war ebenso dabei wie "Tentack one" von Imminent Starvation und "Got the message" von Sonar. Außerdem gab es Raritäten von Mono no aware und Pneumatic Detach. Constri versank in Entzücken. Sie mußte weitertanzen, während sie Afri-Cola holte, sie mußte weitertanzen, während sie die Afri-Cola austrank. Ein Junge rief von der Tanzfläche aus zu Constri und mir herüber, es sei furchtbar hier, er könne einfach nicht aufhören, zu tanzen. Constri entdeckte einen Jungen, der SMS-Nachrichten schrieb, ohne währenddessen mit dem Tanzen aufhören zu können. Constri unterhielt sich mit ihm über die Unmöglichkeit, im Tanzen innezuhalten, was man auch immer gerade tun wollte.
Erst als Constri, Tyra und ich kaum noch laufen, geschweige denn tanzen konnten, schlichen wir von dannen. Draußen empfing uns die hell und warm strahlende Morgensonne, obwohl es erst viertel nach fünf war, nach der MEZ sogar erst viertel nach vier.
Am Nachmittag trafen Tyra und ich uns in der Kirche, wo der romantisch und modern gestaltete Pfingstgottesdienst stattfand. Constri schlief währenddessen im Auto gegen ihre Migräne an.
Vor der geöffneten Kirchentür sah ich einige Festivalgäste stehen, die sich miteinander unterhielten. Ein Pärchen war dabei, das trug Uniform-Look: sie in weißer Bluse, Korsett und Manga-Röckchen, er mit Militär-Schirmmütze, umgedrehtem Kreuz an der Halskette und Peitsche am Gürtel. Wohlgelaunt hatten sie sich hier zum Gottesdienst eingefunden.
"Das gefällt mir", wisperte ich Tyra zu. "Egal wie martialisch und scheinbar antichristlich sie sich kleiden, entscheidend ist doch, was sie tun. Und sie gehen friedlich zur Kirche."
Im Eingangsbereich gab es einen Stand, wo christliche Bücher, Rauchwerk und esoterische Artikel verkauft wurden. Der Innenraum der Kirche war über und über mit roten Rosenblättern geschmückt. Hinten links gab es eine Nische, da waren hinter einer steinernen Bank weiße Stoffbahnen aufgehängt, und ringsherum langen Rosenblätter, und viele Vasen mit roten Rosen standen da. Die Nische war von den Besuchern des Gottesdienstes bereits als Kulisse identifiziert worden. Ein schön zurechtgemachtes Mädchen mit Tiara, Reifrock und Rokoko-Decolleté posierte auf der steinernen Bank und ließ sich fotografieren.
Die Kirche wurde fast voll, obwohl dieser Gottesdienst der erste von insgesamt dreien war, die heute nachmittag stattfinden sollten. Fast alle Besucher waren Festivalgäste. Das Programm lehnte sich an den traditionellen Aufbau von Gottesdiensten an, mit christlicher Musik, Predigt, Vaterunser und Segen. Nur sang die Gemeinde nicht selbst, sondern eine Band sang die Lieder, moderne christliche Lieder mit deutschen Texten, die im Begleitheft mitgelesen werden konnten. Die Predigt hielt ein junger Mann, der vor allem seine eigene Geschichte zu erzählen schien, nämlich wie er im Glauben Halt gefunden hatte und die Kraft, von seinem Drogenkonsum Abstand zu nehmen. Tyra bemängelte, daß er zu sehr polarisierte zwischen den Gothics und der übrigen Welt.
"Wir sind doch alle nur Menschen", sagte sie zu mir. "Wir haben doch alle die gleichen Sorgen und die gleichen Bedürfnisse, egal wie wir uns anziehen und was für Musik wir hören."
"Das hat der noch nicht begriffen", meinte ich. "So weit ist der noch nicht. Natürlich sind wir alle nur Menschen, wir alle berühren die Erde, und wir alle gehen zurück in die Erde, von der wir kommen. Das muß der halt noch lernen."
Am Ausgang der Kirche bekam jeder Besucher eine rote Rose geschenkt, an die ein Zettel gebunden war, auf dem stand:

Zum Abschied gebe ich euch den Frieden, meinen Frieden, nicht den Frieden, den die Welt gibt - Joh 14.27

Im Auto wachte Constri auf und berichtete, daß ihre Migräne endlich weg war. Mit Constri und Tyra ging ich noch einmal in die Kirche, um Fotos zu machen. In der Nische mit der steinernen Bank fotografierten wir uns gegenseitig. Dann fuhren wir zum "Blendwerk". Tyra war sehr aufgeregt.
"Berenice wird mich hassen", glaubte sie.
Sie hatte ihre Kalender mit nach L. genommen. Die Kalender waren bei ihrer Mutter in den Umzugskisten gewesen und wieder zum Vorschein gekommen, als die Kisten ausgepackt wurden. Nun wollte Tyra gerne Berenice die Kalender zeigen, um zu belegen, was parallel zu Berenices Beziehung mit Rafa zwischen Rafa und Tyra stattgefunden hatte. Die Kalender nahm Tyra aber nicht mit ins "Blendwerk", weil sie dort nicht sicher aufbewahrt werden konnten.
Aus den Aufzeichnungen in den Kalendern ging hervor, daß Tyra seit Anfang 2003 ein Verhältnis mit Rafa hatte, also nicht erst ab September 2004, wie ihre bisherige Version lautete. Tyra erzählte, daß es ein halbes Jahr dauerte, bis sie genügend Verliebtheit für Rafa aufbringen konnte, um ein Verhältnis mit ihm zu beginnen. Damals verheimlichte er ihr noch seine Beziehung mit Berenice und verlangte von Tyra, daß sie nichts über ihr Verhältnis mit Rafa nach außen dringen ließ. Gemeinsam mit Tyra vergrub er sich mehr und mehr in einer Isolation zu zweit, schickte sie aber an den Wochenenden fort, damit sie Berenice nicht begegnete. Als Tyra von Rafas Beziehung mit Berenice erfuhr, behauptete er, zwischen ihm und Berenice laufe eigentlich nichts mehr. Er habe die Beziehung mit Berenice nur deshalb noch nicht beendet, weil sie ihm finanziellen Schaden zufügen könne. Tyra vertraute auf Rafas Beteuerungen und ließ sich darauf ein, die Rolle der heimlichen Geliebten zu spielen, anderthalb Jahre lang, bis Berenice sich von Rafa trennte. Anstatt sich jedoch nun endlich zu Tyra zu bekennen, verleugnte Rafa sein Verhältnis mit ihr weiterhin und behauptete:
"Wir sind doch gar nicht zusammen."
"Was sind wir denn sonst?" entgegnete Tyra. "Wir hängen dauernd zusammen, wir teilen alles miteinander, auch das Bett. Was sind wir denn sonst?"
"Ach, was heißt schon 'zusammen'?" redete Rafa sich heraus.
Wenige Wochen später betrog er Tyra mit mehreren Frauen und prahlte auf seiner Geburtstagsfeier im Januar 2005 vor Darienne mit seinen "Jagderfolgen", was Darienne ohne sichtbare Gemütsregung zur Kenntnis nahm.
"Dieses Desinteresse war es, was Rafa bewogen hat, Darienne zu seiner Freundin zu 'ernennen'", vermutete ich. "Rafa kann sicher sein, daß Darienne ihn nicht liebt. Und er kann sicher sein, daß sie auf seine Reden und seine Prahlereien nichts erwidern kann. Darienne hat nichts zu sagen außer 'ja, ja'. Damit hat sie sich für die Rolle seiner Freundin qualifiziert."
Tyra befürchtete, Berenice könnte ihr böse sein, weil sie ihr noch nicht erzählt hatte, daß sie ab Anfang 2003 schon etwas mit Rafa hatte. Zuletzt hatte sie im September 2005 etwas mit ihm und dann noch einmal Anfang 2006, als es ihm schlecht ging und er sie zu sich bat. Typischerweise pflegt Rafa sich bei seinen Ansinnen auf dem berüchtigten Sofa zurückzulehnen und zu fragen:
"So, kümmerst du dich um mich?"
Das heißt soviel wie:
"Los, sei mir jetzt zu Willen."
Sie habe die Schule geschwänzt, aus Angst, Rafa könnte sein Verhältnis mit ihr beenden, wenn sie ihm nicht jederzeit zur Verfügung stand. Er rief zu allen Tages- und Nachtzeiten bei ihr an und wollte sie sehen, und sie kam sofort zu ihm - einerseits weil sie befürchtete, daß er sich sonst nie mehr bei ihr meldete, andererseits weil sie glaubte, ihm helfen zu müssen und für sein Wohlergehen verantwortlich zu sein. Ihre eigenen Bedürfnisse zählten nicht für sie. Wenn sie morgens früh aufstehen mußte und er sie mitten in der Nacht anrief und zu sich bestellte, folgte sie seinem Wunsch, obwohl sie deswegen am nächsten Tag nicht in der Schule erscheinen konnte. Rafa nahm keinerlei Rücksicht auf Tyras Ausbildung und auf ihre Gesundheit. Er benutzte sie wie einen Automaten. Dennoch machte Tyra sich Vorwürfe, weil sie - damals ein neunzehnjähriges Mädchen - seinen Übergriffen auf ihr Privatleben nicht widerstehen konnte.
"Rafa hat dich manipuliert", urteilte ich. "Er hat deine Verlustängste ausgenutzt und dich in eine psychologische Zwickmühle hineingezogen. Er hat mit Liebesentzug gedroht und dich damit an deiner schwächsten Stelle getroffen."
"Das stimmt", erinnerte sich Tyra. "Einmal wollte ich nicht so wie er, und da hat er gesagt:
'Dann ist es vorbei.'"
"Siehst du", sah ich mich bestätigt. "Er hat deine Schwächen und deine damalige Unerfahrenheit eiskalt ausgenutzt. Wenn es hier einen Schuldigen gibt, dann ist das Rafa."
Tyra blieb dabei, Schuld habe auch sie selbst, weil sie sich darauf eingelassen habe, sein Spiel mitzuspielen, und weil sie seine Geliebte geblieben war, nachdem sie von seiner Beziehung mit Berenice erfahren hatte. Berenice werde sie gewiß dafür hassen.
"Die haßt dich bestimmt nicht", widersprach ich. "Die ist heilfroh, daß sie dich kennengelernt hat und sich mit dir austauschen kann. Die ist dankbar dafür."
Constri, Tyra und ich stellten uns in der großen Konzerthalle im "Blendwerk" links vorne ans Geländer. In einer Reihe harter Industrial-Acts bildeten Neotek die Ausnahme mit gemäßigtem Old School EBM. Das Konzert kam beim Publikum gut an. Hinter der Bühne sah ich Berenice mit trägerloser Corsage. Sie kam erst zum letzten Stück auf die Bühne, "Eitelkeit". Sie sang erst sehr leise, schien dann aber selbstsicherer zu werden, was sich auch in Mimik und Gestik ausdrückte. Sie sang lauter und lächelte und lachte zwischen den Textzeilen.
In der Pause vor dem nächsten Act versammelten Berenice, ihr Freund Baryn, Vico, Kitty, Constri, Tyra und ich uns im Zuschauerraum. Baryn ist groß, kräftig und etwa Anfang bis Mitte zwanzig. In seinem Verhalten wirkte er höflich und offen, Berenice gegenüber wirkte er aufmerksam und fürsorglich.
Zu Berenice sagte ich, ihr Auftritt wirke umso überzeugender, je überzeugter sie selbst von dem sei, was sie singe. Und ich hätte durchaus den Eindruck, daß sie von dem Stück überzeugt sei, das sie vorgetragen hatte.
"Außerdem hat mich auch die Band überzeugt, mit der du zusammenarbeitest", setzte ich hinzu. "Ich denke, mit denen hast du es gut getroffen."
"Neotek ist ja auch eine richtige Band", meinte Berenice. "Das sind fünf Personen, die gemeinsam Musik machen."
"Und kein Marionettentheater wie W.E", ergänzte ich. "Bei W.E zieht nur Rafa die Fäden, und die Puppen müssen tanzen, wie er will. Vielleicht wirkt W.E auch deshalb nicht überzeugend auf mich."
Berenice erzählte, daß sie am morgigen Tag mit Neotek zu einem Festival fahren werde, wo sie ebenfalls miteinander auftreten würden. Darauf freue sie sich schon.
"Du hast für die Bühne sogar eine Corsage an", staunte ich.
"Die ist ganz leicht und elastisch", zeigte Berenice die Machart ihrer Corsage. Singen und Schnüren passen nun einmal nicht zusammen.
Kitty und Vico ließen sich von den Industrial-Klängen des nun folgenden Acts Bahntier begeistern. Berenice erzählte, daß Industrial zu den Vorlieben der beiden gehört.
Berenice zeigte mir ihr neues Piercing, ein Unterlippenpiercing, in dem sie einen Ring mit einem glitzernden Stein trug. Sie hatte es sich machen lassen, um sich so zu schmücken, wie sie selbst es gern wollte.
Berenice erzählte, daß sie früher ein Brustwarzenpiercing und ein Bauchnabelpiercing hatte. Ihr Brustwarzenpiercing sei das gewesen, welches Rafa bereits in der ersten Nacht entfernt habe, mit der Begründung:
"In die weibliche Brust gehört kein Piercing."
"Wenn ein Mann sich eine Frau ausgesucht hat, und ihm gefällt ihr Piercing nicht, hat er zwei Möglichkeiten", schlüsselte ich auf. "Erstens kann er einfach verlangen, daß sie es entfernt. Zweitens kann er aber auch fragen, weshalb sie es hat, und mit ihr auf einer Ebene diskutieren und gemeinsam mit ihr nach einem für beide gangbaren Kompromiß suchen. Rafa hat einfach über deinen Körper verfügt, unter Mißachtung der Gründe, die du für deine Piercings hattest."
"Das Piercing am Bauchnabel hatte ich nur meinem vorherigen Freund zuliebe, das wollte ich sowieso loswerden."
"Trotzdem, auch wenn du die Piercings nicht unbedingt haben wolltest, war Rafas Verhalten ein Übergriff auf deine Privatsphäre", meinte ich.
"Stimmt."
"Rafa hat so getan, als wenn seine persönliche Meinung über Piercings eine Tatsache wäre. Er hat seine eigenen Vorstellungen für allgemeingültig erklärt, als wenn es keine anderen Meinungen und Maßstäbe geben würde."
"Rafa glaubt ja auch, seine Meinung wäre allgemeingültig."
"Wenn man vorher schon von mehreren Freunden vereinnahmt und mißhandelt worden ist, glaubt man irgendwann, das sei normal."
"Stimmt."
Berenice erzählte, nur allmählich werde sie den Einfluß von W.E los. Während des Neotek-Konzerts, vor ihrem Auftritt, habe sie reglos am Rand der Bühne gestanden und gewartet. Baryn habe nach dem Konzert zu ihr gesagt, es hätte lockerer und lebendiger gewirkt, wenn sie während des Wartens auf ihren Auftritt nicht still und unbeteiligt dagestanden hätte, sondern Teilnahme und Regung gezeigt hätte.
"Das hat Rafa mir eingetrichtert, daß ich immer nur starr dastehen soll", erinnerte sich Berenice.
"Rafa hat dich gedrillt", sagte ich. "Er hat dich als Marionette verwendet."
"Rafa verwendet alle wie Marionetten."
"Rafa hat schuld an dem, was er tut. Und zwar hat er deshalb schuld, weil seine Beziehungen von vornherein nicht auf Verliebtheit gründen. Rafa hält seine Freundinnen nur, um sie zu benutzen. Er hat überhaupt kein Konzept für eine von Liebe getragene Beziehung. Er hat keine Vorstellung davon."
Berenice meinte, sie werde sich erst dann ganz von W.E gelöst haben, wenn keiner der Tests auf Krankheitserreger, die sie hat durchführen lassen, positiv ist. Der erste war schon negativ.
Ich erzählte von Rafas beruflichem Niedergang und seiner zunehmenden sozialen Isolation, eine Entwicklung, die gegensätzlich zu meiner eigenen Entwicklung verläuft:
"Je mehr Rafa sich abschottet, je weniger Kontakte zu anderen Menschen er hat, desto mehr Freunde und Bekannte gewinne ich. Je unsicherer und ängstlicher Rafa wird, desto sicherer fühle ich mich. Je mehr seine berufliche Situation sich verschlechtert, desto besser wird die meine. Es ist seltsam - seit ich Rafa kenne, bin ich immer offener und selbstsicherer geworden, bis hin zu einem Gefühl der Unverletzbarkeit."
"Früher dachte ich, was du machst, ist falsch. Inzwischen denke ich, was du machst, ist richtig."
"Zumindest hat es mir nicht geschadet ... Rafa hat mir nie schaden können. Ich habe ihn deshalb für harmlos gehalten, bis ich erfahren habe, was er anderen Menschen angetan hat. Da bin ich wirklich ganz furchtbar wütend auf ihn geworden. Da hört für mich der Spaß auf. Mir kann er nichts tun, aber andere Menschen kann er zerstören. Er manipuliert sie und untergräbt ihr Selbstwertgefühl. Und mein Selbstwertgefühl ist, so paradox es klingt, immer nur linear gestiegen, seit ich Rafa kenne."
"Dann scheinst du wirklich die Einzige zu sein, bei der das so ist."
"Und vielleicht kann ich, weil das so ist, anderen Leuten helfen, denen er schadet."
"Wir werden noch auf seinem Grab tanzen", meinte Berenice.
Als ich von Tyras Selbstvorwürfen erzählte und von ihrer Furcht, daß Berenice wütend auf sie sein könnte, betonte Berenice lebhaft, Tyra möge sich keinesfalls Vorwürfe machen, und sie sei auch bestimmt nicht wütend auf sie.
"Das habe ich ihr schon die ganze Zeit klarzumachen versucht", seufzte ich. "Aber sie kann es immer noch nicht richtig glauben."
Berenice meinte, sie hoffe inständig, daß es gelingen werde, Tyra von ihren Selbstvorwürfen und ihrem Argwohn zu befreien.
Als ich Berenice erzählte, daß Tyra bei Rafa auf dem Tisch einen Stapel mit den sexistischen Flyern hat liegen sehen, deren Aussehen ich ihr gemailt habe, und daß er allen Ernstes damit Werbung machen will, rief Berenice entgeistert:
"Waas? Das kann doch nicht wahr sein! Nein, das kann doch nicht wahr sein!"
Baryn berichtete, als er Berenice kennengelernt habe, habe sie zunächst wenig von ihrer Beziehung mit Rafa erzählt. Was sie an Schlechtem von Rafa erzählt habe, habe er zunächst nicht alles geglaubt, da er vermutet habe, daß Berenices Bewertung durch ihre Wut auf Rafa nicht objektiv gewesen sei. Als er nach und nach immer genauere und sachlichere Informationen von ihr und auch von anderen Leuten erhielt, sei ihm bewußt geworden, welchen Schaden Rafa ihr zugefügt habe.
"Wenn du mich fragst, gehört der kastriert", meinte Baryn. "Nicht daß du mich falsch verstehst - ich habe persönlich nichts gegen Rafa, ich kenne ihn nur aus Erzählungen. Aber was der getan hat, dafür müßte man den kastrieren."
"Nun, ich sehe das aus einer anderen Perspektive", erklärte ich. "Für mich stehen die Menschenrechte vornean. Für mich gelten demokratische Grundwerte, und nach diesen Grundwerten gibt es keine Leibesstrafe. Überdies kann man Rafa nur für die körperlichen Grausamkeiten belangen, die er begeht, nicht für die seelischen. Seelische Grausamkeit ist schlecht zu objektivieren und kann deshalb auch nicht klar umrissen in einem Gesetzestext beschrieben werden. Deshalb ist seelische Grausamkeit in aller Regel straffrei."
Das konnte Baryn nachvollziehen. Was ihn störte, war seine erzwungene Untätigkeit - daß er nicht gesetzeskonform als Rächer in Erscheinung treten konnte.
"In der Bibel steht ein Satz, der darauf paßt", erzählte ich. "'Mein ist die Rache, spricht der Herr.' Das bedeutet, daß die Rache nicht unsere Aufgabe ist. Wir können sie abgeben, und wir sollen sie abgeben, und das bedeutet auch, daß wir uns befreien vom Täter und seinen Taten. Wenn wir selbst Rache üben würden, würden wir uns hierdurch erst recht mit dem Täter verbinden. Wenn wir die Rache abgeben, können wir uns von ihm entfernen."
Baryn erzählte, je entspannter Berenice werde, desto weniger ekle sie sich vor Abflüssen. Inzwischen könne sie ab und zu schon einen Abfluß reinigen.
Jeder helfe dem anderen, seine Schwächen zu überwinden. Berenice helfe ihm, sein Leben zu strukturieren, und er vermittle ihr Wertschätzung und Geborgenheit.
Baryn erzählte von seiner Kindheit und Jugend. Er habe bereits eine Karriere im Drogenmilieu hinter sich. Sein Vater sei ein drogenabhängiger Chemiker und habe eine neue Variante von LSD entwickelt, die deshalb nicht verboten gewesen sei, weil sie etwas Neues gewesen sei, auf das sich das Gesetz noch nicht hatte einstellen können. Der Vater sei so rauschgierig gewesen, daß er sich selbst einen intravenösen Zugang gelegt habe und sich darüber Ketamin infundiert habe. Er habe den Wunsch gehabt, "dauerbreit" zu sein. Schließlich habe der Vater im Rahmen der Sucht eine Straftat begangen, die ihn für mehrere Jahre ins Gefängnis gebracht habe. Dort sei er geläutert worden, habe den Drogen abgeschworen und nach der Haft Psychologie studiert, sogar die Kassenzulassung erworben. Inzwischen habe er eine eigene Praxis und berate Suchtkranke. Freilich wünsche Berenice nicht, ihn kennenzulernen. Als ich Berenice darauf ansprach, fragte sie:
"Hat Baryn dir von dem Hund erzählt?"
Nein, das hatte er nicht, und das war der entscheidende Punkt - der Grund, warum Berenice Baryns Vater nicht kennenlernen will.
Als ich Baryn nach dem Hund fragte, erzählte er, daß er früher einen Hund gehabt habe, und sein Vater habe den Hund im Drogenrausch umgebracht.
"Da kann ich Berenice durchaus verstehen", meinte ich.
Zu Berenice sagte ich, mir gehe es vor allem mit Katzen so, daß ich es nicht ertragen kann, wenn sie gequält oder umgebracht werden. Aber auch alle anderen Kreaturen kann ich nicht leiden sehen.
"Hühner sind für mich zum Essen da", erzählte ich. "Aber auch bei ihnen finde ich artgerechte Haltung wichtig."
Tyra und Berenice unterhielten sich lange. Danach sagte Tyra zu mir, Berenice sei ein großartiger Mensch, und nun sie dies wisse, mache sie sich bittere Vorwürfe, weil sie Rafas paranoide Vorstellungen geglaubt hatte und tatsächlich gedacht hatte, Berenice könnte ein Komplott gegen Rafa schmieden wollen. Berenice habe Tyra sogar angeboten, zu ihr zu ziehen, dann könne sie mal erleben, was wahre Freundschaft sei, denn Rafa behandle Tyra nicht wie ein Freund.
"Das stimmt", meinte ich. "Rafa benimmt sich nicht wie ein Freund. Er trägt keine Verantwortung, er benutzt die Menschen nur nach Lust und Laune."
Im Publikum begegnete mir jemand, der sich als "Rasti" vorstellte. Er trug ein im Lochmuster gehäkeltes Netz um den Hals, in das genau ein Bierbecher hineinpaßte. Ich war begeistert von dieser kreativen Idee und fragte Rasti, ob er das Netz selbst gehäkelt hatte. Rasti erzählte mit schwerer Zunge, daß er in einem Altenheim arbeitete und daß eine der Damen, die dort lebten, für ihn etwas handarbeiten wollte. Sie fragte ihn, ob er Socken oder einen Schal haben wollte. Rasti entgegnete, beides brauche er nicht, doch ein Umhängenetz für Bierbecher, das könnte er wohl brauchen. So häkelte sie ihm dieses Netz.
Rufus und Geneviève trafen wir auch, und sie waren beide recht betrunken. Wave war auch wieder sehr betrunken und bat mich, mit ihm aufs Klo zu gehen.
Dirk I. und Peter waren ebenfalls im "Blendwerk". Ich stellte Constri und Dirk einander vor. Constri kannte Dirk bisher nur von seinen Auftritten.
Die Neotek-Bandmitglieder alberten mit uns herum. Einer von ihnen warf Berenice begeistert über die Schulter. Einer machte Fotos mit einer Digitalkamera. So entstanden auch Bilder, auf denen Tyra, Berenice und ich gemeinsam zu sehen sind. Tyra und Berenice halten einander in den Armen. Nachts trafen wir uns auf dem Hauptgelände des Festivals noch einmal wieder. In einer der Hallen gab es einen Disco-Betrieb. Hal legte auf. Das wäre für uns vergnüglich gewesen, wenn nicht Hal weit entfernt vom Publikum einsam auf einer Bühne gestanden hätte, abgeschirmt von Security-Leuten, die auf Befragen erklärten, vom DJ dürfe man sich weder etwas wünschen, noch dürfe man ihn nach einem Titel fragen.
"Dann hat diese Veranstaltung ihren Sinn verfehlt", war Constris und meine Ansicht.
Wir fuhren zur Pension und gingen schlafen.
Am Mittag holten wir Tyra in der Messehalle ab. Wir trafen Onno und machten Erinnerungsfotos. Dann machten wir uns auf den Weg zur Bastei.
Tyra fragte mich, ob ich die Musik von W.E denn mögen würde.
"Es gibt einige Lieder von W.E, die ich wirklich mag", antwortete ich, "die kann man aber an einer Hand abzählen. Dazu gehören 'Ganz in Weiß', natürlich 'Schneemann', 'Der strahlende Held' und der Text von 'Tanz eiskalt', weil Rafa darin so ehrlich seine Beziehung zu mir beschreibt. Und die 'Moorsoldaten' sind auch ganz nett. Das meiste von W.E kann ich aber nicht leiden. Ich mag einfach den Stil nicht, diesen seichten, grellen Stil."
Tyra erzählte von ihrem Gespräch mit Berenice. Berenice hat Tyra eine vorstehende Stelle links neben ihrem Brustbein gezeigt. Dort habe Rafa ihr eine Rippe zertreten, und nicht nur einmal, sondern noch ein zweites Mal.
Berenice scheint Rafa nach wie vor entschuldigen zu wollen. Sie sagte über sich selbst, sie sei eine Zicke, unleidlich und verletzend. Wenn man sie im falschen Augenblick anspreche, könne sie sehr unfreundlich und beleidigend werden.
Berenice sei es nur gelungen, sich von Rafa zu trennen, weil sie einen anderen Mann gefunden habe. Berenice schaffe es nicht, ohne Mann zu leben.
Durch ihre Abhängigkeit von dem Vorhandensein einer Beziehung wird Berenice angreifbar und erpreßbar, und das scheint Rafa weidlich ausgenutzt zu haben.
Als Berenice mit Baryn zusammenkam und sich von Rafa trennte, soll Rafa sie angerufen haben und am Telefon so sehr geschluchzt haben, daß Berenice das Telefonat abbrechen mußte.
"Rafa hat vor mir nie geweint", merkte Tyra an.
Ich vermute, Rafa wollte durch sein Weinen Mitleid erzeugen. Bei Tyra schafft er das auch ohne Weinen.
In der Altstadt von L. bewunderten Constri, Tyra und ich besonders prachtvolle Kostüme von Festival-Gästen. Wir sahen ein Pärchen flanieren, gekleidet im Stil des mittleren 19. Jahrhunderts. Sie trug einen Traum aus golddurchwirktem rotem Brokat, mit tiefem Decolleté, Puffärmeln und Reifrock. Im Rücken hatte das Kleid eine Zierschnürung. Es schien entweder aus einem Kostümfundus zu stammen oder mit handwerklicher Professionalität selbstgemacht zu sein.
Auf der Bastei tranken wir Holunderblüten-Federweißer. Constri und Tyra aßen Würstchen, die zünftig auf Stöckchen gespießt verkauft wurden. Jedes Jahr findet zu Pfingsten dort oben ein Mittelalter-Markt statt. Man konnte zwei Gauklern zusehen, die mit Diavolos jonglierten. Mir gefielen die zierlichen Tiaras, die es an einem Schmuckstand gab. Allerdings gehört zu einer Tiara straff zurückgekämmtes Haar, was mir nicht gut steht. Und eine Tiara würde mir beim Tanzen schnell herunterfallen.
Nachmittags fuhren wir aufs Land zu Hendrik. Tyra erzählte auf der Fahrt, Rafa rede heute noch von Tessa und behaupte, sie geliebt zu haben. Tyra fragte, weshalb ich so sicher sei, daß Rafa Tessa nicht geliebt hat.
"Das kann ich nicht beweisen", erwiderte ich, "aber so, wie ich sie beide erlebt habe, ist es gar nicht möglich, daß Rafa sie geliebt hat. Tessa ist dumm wie ein Stück Dreikorntoast und ordinär wie eine Prostituierte. Für Rafa war sie praktisch, weil sie ihm in jeder Hinsicht unterlegen war. Ansonsten aber hat sie überhaupt nicht zu ihm gepaßt. Ihm war es halt nur recht, daß sie, die nie eine Arbeit angefaßt hat und nur von dem Vermögen ihrer Eltern gelebt hat, ihm rund um die Uhr zur freien Verfügung stand."
Rafa soll behauptet haben, Tyra und Tessa würden sich ähneln.
"Also, du und Tessa!" rief ich. "Wenn Rafa behauptet, Tessa und du, ihr würdet euch ähneln, dann zeigt er damit, daß er sich weder für dich noch für Tessa jemals interessiert hat, weil er weder dich noch Tessa jemals als Persönlichkeit wahrgenommen hat. Tessa und du, das ist ein Unterschied wie Tag und Nacht. Tessa ist dumm wie ein Sack Reis, und du bist intelligent und aufgeweckt. Tessa ist desinteressiert und egozentrisch, du bist interessiert, offen und lebendig. Tessa ist ordinär, du bist kultiviert. Also, wenn irgendwer Tessa ähnelt, dann Darienne."
Darienne gibt sich in ihren Outfits und Posen gern frivol, kümmert sich kaum um ihre berufliche Zukunft, trägt schlechte Laune, Arroganz und Haß zur Schau, hat nicht viel zu sagen und wirkt recht unbedarft.
"Wahrscheinlich hat Darienne mehr IQ zur Verfügung als Tessa", vermutete ich, "doch verwendet Darienne ihren IQ nicht zum selbständigen Denken, sondern um für Rafa die perfekte Sklavin zu spielen."
Bei Hendrik staunten Tyra und Constri über das hohe, lichte, durch ein Kaminfeuer erwärmte Wohn- und Arbeitszimmer. Hendrik hatte zum Kaffee gedeckt. Er zeigte Fotos von seinem Haus, wie es früher aussah und wie er es Schritt für Schritt umgebaut hat.
Tyra schlief auf einem der beiden Sofas ein, Constri lagerte auf dem anderen. Ich ließ den Kater SARS herein, der sich für die Käse-Sahne-Torte interessierte. Damit er Constri nicht die Torte vom Teller fraß, hob sie den Teller hoch und aß von dort aus. Der Kater lauerte ein Weilchen, ob er doch noch an die Torte herankommen konnte, und rollte sich schließlich auf Constri zusammen.
Nach dem Pfingstfestival tauschte ich mit Gart SMS-Nachrichten aus. Gart erzählte, daß Rafa am Pfingstsamstag in OS. aufgelegt hat. Tags zuvor hatte er sich im "Memento Mori" mit der Begründung entschuldigen lassen, er sei krank.
"Entweder ist Rafa auf wundersame Weise innerhalb eines Tages gesund geworden, oder er hat am Freitag das 'Memento Mori' tatsächlich geschwänzt", dachte ich.
Am Mittwoch war ich bei Merle und Elaine zum Abendessen. Der Nachbar aus der Wohnung über Merles Wohnung klingelte, weil er sich ausgesperrt hatte. Er stieg auf Merles Balkongeländer und zog sich von da aus an seinem eigenen Balkongeländer hoch, so daß er durch die offenstehende Balkontür zurück in seine Wohnung gelangen konnte.
"Der ist schmuck", seufzte Merle. "Den kannte ich noch gar nicht. Aber der hat bestimmt eine Freundin."
In der Reha-Klinik habe ich wieder einmal eine seltsame Geschichte gehört, die Geschichte von Cally. Cally ist ein Hausschwein, schwarz mit weißen Pfoten, das eigentlich Caligula heißt. Es gehört der Tochter einer Patientin und sorgt in der Familie für Kurzweil.
"Wir brauchen keinen Fernseher", meinte die Patientin. "Viele Leute halten uns für verrückt. Wir wollten für Cally eine Leine kaufen und sagten im Zoogeschäft, die ist für ein Schwein. Die haben uns glatt für verrückt gehalten."
Cally bekam eine große Hundeleine, aus der er inzwischen herausgewachsen ist. Er geht jetzt beifuß.
Samstags ging es im "Radiostern" zu wie bei einem Kaffeekränzchen, mit dem neuesten Klatsch. Toby begrüßte mich, der auf dem Pfingstfestival in derselben Pension übernachtet hat wie wir. Toby erzählte von seinem Versuch, gemeinsam mit seiner Freundin mit dem Rauchen aufzuhören. Heute hatte sie ihn beim Rauchen erwischt und war wütend. Toby hatte vor, sie "zuendeschmollen" zu lassen. Meine Frage, ob er denn nun mit dem Rauchen aufhören werde, bejahte er eher halbherzig.
Evelyn erzählte, daß sie zwei Jobs gleichzeitig ausübt und viele Überstunden macht. Sie verzichtet darauf, eine Ausbildung zu machen, stattdessen jobbt und jobbt sie. Sie stellt ihr berufliches Fortkommen hintenan mit dem Argument:
"Wer soll denn die Arbeit machen, wenn nicht ich?"
"Das ist nicht deine Aufgabe, dieses Problem zu lösen", entgegnete ich.
"Ich weiß, ich weiß", sagte Evelyn etwas verschämt.
Veränderungen geht sie gern aus dem Weg, lieber arrangiert sie sich mit einer mißlichen Situation.
Curtis wollte eine Beratung und erzählte mir draußen vor der Eingangstür, daß er seit sechs Jahren abhängig von Amphetaminen ist. Er nimmt vorwiegend Speed, aber gelegentlich auch andere Drogen, außerdem trinkt und raucht er. Eigentlich wisse das mit den Amphetaminen keiner, und es dürfe auch keiner erfahren, weil er sonst seine Arbeit verliere und seinen Sohn nicht mehr sehen dürfe. Er fühle sich sehr gestreßt und leide seit einiger Zeit unter seltsamen Schmerzzuständen und Panikattacken, das seien psychosomatische Symptome.
"Daß das psychosomatisch ist, glaube ich weniger", meinte ich. "Wahrscheinlich handelt es sich bei dem Schmerzzuständen und Panikattacken um Vergiftungserscheinungen. Du hast jahrelang deinen Körper mit Speed vergiftet, das bleibt für das zentrale Nervensystem nicht ohne Folgen."
"Ach, du meinst, ich bin eigentlich ganz normal?"
"Ja, ich meine, du bist ein ganz normaler Suchtkranker, wie viele andere auch."
"Oh, ich dachte schon, ich werde verrückt."
Curtis erinnerte sich daran, daß seine Panikattacken meistens kurze Zeit nach dem Konsum von Speed auftreten. Das erhärtete meinen Verdacht. Ich empfahl Curtis, als Erstes die Sucht in Angriff zu nehmen.
"Wenn du damit nicht anfängst, ist alles andere umsonst", meinte ich. "Du schaffst es nur noch mit professioneller Hilfe, von den Drogen loszukommen."
"Ich kann nicht zur Entgiftung", war Curtis sicher. "Es darf niemand erfahren, daß ich abhängig bin. Alles hängt für mich daran, die Arbeit, die Familie ..."
"Und das wirst du alles verlieren, wenn du nichts gegen die Sucht unternimmst."
"Aber es darf doch niemand erfahren. Da bin ich doch sofort meinen Job los."
"Wenn du entgiftest, bist du regulär krankgeschrieben, dafür kann dich niemand kündigen. Außerdem mußt du Menschen haben, mit denen du über deine Sucht reden kannst, denn allein wirst du nicht damit fertig. Die Sucht gedeiht nur mit der Heimlichkeit. Ohne Lügen hat die Sucht keine Chance. Die Ehrlichkeit ist der Feind der Sucht."
"Wo arbeitest du gerade?" erkundigte sich Curtis.
"Eigentlich arbeite ich immer in Kingston", erzählte ich, "aber zur Zeit arbeite ich in einer Reha-Klinik in Bad O., weil ich das für meine Facharztweiterbildung brauche."
"Bad O.! Das ist weit weg."
"Ja, und es ist keine Suchtklinik."
"Oh, ich will zu dir", klagte Curtis. "Ich will zu jemandem, den ich kenne. Kann ich nicht nach Bad O.?"
"Da behandle ich Schlaganfälle, da findest du kein geeignetes Setting für eine Entgiftung. Denke immer daran, die Behandlung erfolgt nicht durch einen Einzelnen, sondern durch ein Team. Die Behandlung erfolgt im Rahmen eines bestimmten Settings, wie es das auch in Kingston gibt."
Curtis stellte mir zwei Mädchen vor. Eines hat mich im vergangenen Jahr im "Restricted Area" gesehen. Sie erzählte, seither sei ich für sie nur noch "die schwarze Ballerina". Ich hätte etwas Besonderes an mir, das mich aus jeder Gruppe heraushebe, egal in welcher Gruppierung ich mich aufhalte. Ich hätte einen eigenen Stil, der unverwechselbar sei.
Mitte Juni war ich im "Roundhouse", wo Marvel auflegte. Weil ich erst nachts um halb drei erschien, erlebte ich die industrial-reichste Phase, denn Marvel hat vom Inhaber die Auflage, Industrial und Power-Electro erst zu dieser späten Stunde zu spielen. Mir kam das auch deshalb entgegen, weil der Saal sich um diese Zeit langsam leert und es wieder genug Platz zum Tanzen gibt.
Joujou erzählte, daß sie von Darienne schon länger nichts mehr gehört hat.
Marvel will in Joujous neue Wohnung in GT. einziehen. Joujou hat ihm zur Auflage gemacht, daß er sich wieder mehr um sein Studium der Informationstechnik kümmert.
Joujous Tochter Jeanne ist vor Kurzem ein Jahr alt geworden. Joujou berichtete, daß Jeanne schon ihre ersten Schritte gemacht hat. Sie zieht sich an Möbeln hoch.
"Jeden Tag sage ich zu Jeanne:
'Ich danke dir, daß es dich gibt.'
Voll bescheuert."
"Das finde ich überhaupt nicht bescheuert", entgegnete ich. "Das finde ich schön."
"Jeden Morgen, wenn sie aufwacht, sage ich zu ihr:
'Jeanne, die Welt hat dich wieder.'
Ich weiß ja, daß ich nicht so an ihr klammern soll. Ich weiß auch, daß sie ihr eigenes Bett braucht. Mit ihrem Vater Marian verstehe ich mich gut, das Verhältnis ist freundschaftlich, und das ist wichtig für Jeanne."
Die rosa Dose, die ich Joujou zum Geburtstag geschenkt habe, dient jetzt als Spardose fürs "Maschinenraum"-Festival.
"Zum Pfingstfestival konnte ich nicht, weil Jeanne krank war, aber zum 'Maschinenraum'-Festival fahre ich", kündigte Joujou an.
"Dann gehe ich auch hin", entschied ich.
Felicity, die fünfzehnjährige Tochter von Heloise und Barnet, hat ihren ersten Freund. Es ist ein Stück Loslassen für die Eltern.
Barnet und Heloise erzählten von ihrer jüngsten Begegnung mit Nancy. Sie trafen sie mit ihrem Freund am vergangenen Sonntag zufällig in HM. Monatelang hatten sie Nancy nicht mehr gesehen. Heloise hatte Nancy mehrmals auf den Anrufbeantworter gesprochen, Nancy hatte aber nie zurückgerufen. Nun berichtete Nancy, die Anrufe habe sie alle abgehört. Jedoch erklärte sie nicht, weshalb sie nicht zurückgerufen hatte. Nancy ist während der Woche meistens allein, nur sonntags bekommt sie Besuch von ihrem Freund. Nancy ist durch die inzwischen ausgebrochene Erbkrankheit Chorea Huntington körperlich beeinträchtigt, aber den häuslichen Alltag kann sie noch ohne Hilfe bewältigen.
Heloise und Barnet hatten nicht den Eindruck, daß es Nancy wichtig ist, sich wieder mit ihnen zu verabreden. Nancy soll schon früher ihre Bekanntschaften und Freundschaften vernachlässigt haben, wenn sie einen Freund hatte.
"So ist sie eben", seufzte Heloise.
Mitte Juni rief Hendrik an und erzählte von dem Unwetter, das über L. niedergegangen ist. Die ländliche Umgebung blieb verschont, auch das Dorf, in dem Hendrik lebt. Ebenso blieben mehrere Stadtteile von L. verschont. Das Unwetter traf vor allem das Stadtzentrum und die südlich gelegenen Stadtteile - dort, wo wir eine Woche zuvor auf dem Pfingstfestival gefeiert hatten. Das Unwetter dauerte nur eine Viertelstunde, hinterließ aber viele Verletzte und Millionenschäden. Wenigstens gab es keine Toten. Hendrik war gerade in einem der betroffenen Stadtteile beim Yoga, als sich der Himmel schwarz färbte. Apfelsinengroße Hagelkörner zerschlugen die Autos, auch Hendriks Auto bekam Dellen, und die Windschutzscheibe wurde so sehr beschädigt, daß sie ausgetauscht werden muß. Ziegel flogen von den Dächern. Der nahegelegene Park ähnelte einem Schlachtfeld. Zweige und Laub fielen zur Erde, die Bäume und Sträucher wurden kahl. Auf dem Balkon vorm Yoga-Raum standen Pflanzen, die die Yogis retten wollten. Um die Pflanzen nach drinnen zu holen, ohne selbst von Hagelkörnern getroffen zu werden, mußten sie sich Holzteile über die Köpfe halten. Daß gerade ein für die deutschen WM-Fans weniger bedeutsames Vorrundenspiel lief, war ein Glück für die Menschen vor einer der öffentlichen Großleinwände, über die das Unwetter zog. Es waren nicht sehr viele Zuschauer da, so daß die Menschen Schutz suchen konnten, ohne daß eine Panik ausbrach.
Wave erzählte am Telefon von einem Volksfest, wo viel getrunken wird. Er war selbst betrunken und traurig, weil er Tyra nicht haben konnte. Er verehrt sie wie eine Königin. Rafa hingegen wird von Wave nicht mehr verehrt. Wave erlebt Rafa als entwertend und unzuverlässig. Rafa habe ihm vor vier Jahren eine CD versprochen und sie ihm nie gegeben. Wave hat von Rafa den Eindruck, daß Rafa nie Zeit hat, daß ihm die Zeit davonläuft und daß Rafa mit sich selbst und seinem Leben nicht klarkommt und daß man ihm das auch anmerkt.
Rafa soll inzwischen mit dem Rasenmäher im W.E-Forum wüten. Als Wave und einige andere Forummitglieder in der dafür vorgesehenen Rubrik "Partykeller" eine harmlos-alberne Plauderei begannen, trug Rafa Icon auf, diesen Thread zu löschen. Icon berichtete Wave, Rafa begründe das Löschen des Threads damit, daß der Thread "nicht zu W.E paßt". Das gesamte Forum soll beschränkt werden auf wenige Themen und insofern zensiert werden, als alle Beiträge gelöscht werden, die nicht zu den erlaubten Themen passen. Auch soll das Forum nur noch registrierten Mitgliedern zugänglich sein, so daß es Außenstehenden unmöglich wird, sich durch das Forum über W.E zu informieren. Rafa scheint im W.E-Forum alles verbieten zu wollen, was mit persönlichen Kontakten, eigenständigem Denken, Humor und Kreativität zu tun hat.
"Rafa ist neidisch", deutete ich. "Er ist neidisch, weil ihr euch gut versteht und miteinander Spaß habt und er außen stehen muß, weil er sich selber ausgeschlossen hat. Ihr hättet ihn gern in eure Runde aufgenommen, doch er stellt sich selbst abseits. Rafa ist nicht in der Lage, in Gruppen zurechtzukommen. Er kann nicht Teil eines Ganzen sein. Er ist unfähig zum Miteinander. Er will immer die Führung an sich reißen und alles kontrollieren. Und weil er eure Freundschaften nicht kontrollieren kann und nicht an ihnen teilhaben kann, versucht er, sie zu zerstören."
Wave sieht das ähnlich. Er will ein eigenes W.E-Fan-Forum eröffnen, außerhalb von Rafas Kontrolle.
Wave und Xenon betreiben ein Online-Radio. Vor einiger Zeit haben sie sich zerstritten. Als Wave danach auf einem Festival Rafa begegnete, wurde er von Rafa ausgeschimpft.
"Rafa hat mich voll zur Sau gemacht", erzählte Wave. "Er hat gesagt, man müsse zu seinem Freund stehen, ich dürfe mich mit Xenon nicht verstreiten, ich würde damit den ganzen Sender in den Dreck ziehen."
"Das sagt ausgerechnet Rafa", bemerkte ich, "der zu niemandem steht und sich mit allen verstreitet, wenn ihm gerade danach ist. Der wirft dir vor, daß du dich mit Xenon gestritten hast. Der interessiert sich doch gar nicht dafür, was zwischen dir und Xenon vorgefallen ist. Der kann doch gar nichts dazu sagen, weil er gar nicht darüber bescheid weiß. Der soll sich da mal schön 'raushalten."
Wave erzählte, er habe über mich schon viele Lästereien gehört. Einige W.E-Fans hätten über mich gesagt, ich sei eine Psychopathin, mit mir dürfe man sich nicht einlassen.
"Das sind Rafas Worte", wußte ich. "Rafa hat vor seinen Fans über mich abgelästert, und die haben das nachgeplappert, weil sie es nicht besser wußten. Rafa versucht immer wieder, Tyra zu verbieten, mit mir Kontakt zu haben, allerdings ohne Erfolg. Er sagt zu Tyra über mich:
'Nimm' dich vor der bloß in acht, die ist irre.'"
"Du bist generell irre", kicherte Wave, "und weißt du was? Das liebe ich so an dir. Echt, in dir habe ich eine Freundin gefunden."
Ich erzählte von Rafas Hetzkampagne gegen mich, die er im vergangenen Winter im W.E-Forum gegen mich geführt hat.
"Da muß ich mich noch bei dir entschuldigen", sagte Wave zerknirscht.
"Wofür denn?" fragte ich.
"Na, weil ich doch selbst mitgemacht habe", gestand er ein.
"Das habe ich nicht ernst genommen", versicherte ich.
"Ach, das hast du nicht ernstgenommen?"
"Nein."
"Ach, dann ist ja gut."
"Bei den meisten Fans hat Rafas Hetzkampagne nichts bewirkt", erzählte ich. "Die meisten Leute haben einfach nicht genug Aggressionen, um mich als Feindbild wahrzunehmen."
Ein Mitglied von Neotek, mit denen Berenice auf dem Pfingstfestival im "Blendwerk" aufgetreten ist, meldete sich bei mir mit einer E-Mail:

Greetings from one of the crazy danes you met at "Blendwerk" sunday evening during the festival. I took some pictures during our trip - including some good ones of you.

Er schickte fröhliche Festival-Bilder. Darunter sind auch Fotos, die Tyra, Berenice und mich miteinander zeigen.
Das Gästebuch auf der neuen Website von W.E ist nicht mehr so übersichtlich wie bisher, man sieht nur noch einen Eintrag auf einmal. Die Schrift im Gästebuch hat jetzt den Stil von Schreibschrift an einer Tafel, wobei es sich aber nicht um einen Zeichensatz handelt, sondern um aneinandergereihte Bilddateien. Ich schrieb unter falschem Namen:

Die Einstellung von W.E - zumindest diejenige, die zur Schau getragen wird - steht in keinem Zusammenhang mit der Realität. Wer gerne an Fassaden glaubt, ist bei W.E genau richtig.

Rafa antwortete:

Leider hast du mal wieder deine E-Mail-Adresse nicht korrekt abgegeben. Aber feige Idioten sterben leider nicht aus. :)

Ich schrieb:

Na ja, welche E-Mail-Adresse ich angebe, ist eigentlich egal, weil du 1. eine von den vielen richtigen bereits hast und 2. du eh weißt, wer ich bin. Und über das Wort "feige" reden wir mal lieber gar nicht erst, sonst bekommst du am Ende noch Angst davor, in den Spiegel zu schauen.

Rafa schrieb:

Leider kennen wir Dich hier nicht, würden es aber gerne tun. Lass uns doch an Dir und Deinem Problem teilhaben :).

Ich schrieb:

Doch. Du hast gesagt, ich hätte "mal wieder" meine E-Mail-Adresse nicht korrekt angegeben. Dann mußt du mich doch kennen ... jedenfalls kenne ich deine E-Mail-Adresse schon seit 2002.

Rafa hatte in seinen Einträgen die mir bekannte E-Mail-Adresse angegeben, daran konnte ich ihn erkennen.
Ende Juni trafen Joujou und ich uns im "Departure". Joujou bekam von mir ein Exemplar des Storyboards für unsere Foto-Lovestory, das Tyra und ich gemeinsam verfaßt haben. Joujou schmunzelte zufrieden, als sie es las.
"Ja, das kommt hin", fand sie.
Besonders gefällt ihr an dem Storyboard, daß wir nicht über Darienne hergezogen sind.
"Um Darienne geht es ja auch gar nicht", meinte Joujou.
"Das stimmt", nickte ich. "Um Darienne geht es nicht. Es geht einzig und allein um Rafa. Darienne ist nur Statistin."
"Wie im wirklichen Leben", setzte Joujou hinzu.
"Genau, wie im wirklichen Leben."
Joujou erzählte, daß sie Darienne gegenüber angekündigt hat, daß ein Gemeinschaftswerk von Tyra, ihr und mir erscheinen wird.
"Werde ich da bloßgestellt?" fragte Darienne.
"Du nicht", versicherte Joujou. "Aber dein Traummann."
"Tu mir bitte nicht weh."
"Da mach' dir keine Sorgen."
"Mach's", genehmigte Darienne.
Joujou erzählte von ihren Konflikten mit Ary-Jana. Ary-Jana und Joujou hatten sich während Joujous Schwangerschaft angefreundet, und eine Zeitlang kümmerte sich Ary-Jana viel um Joujou. Sie wollte bei Jeannes Geburt dabei sein, war aber, als die Wehen kamen, nicht erreichbar. Als Jeanne zur Welt gekommen war, erreichte Joujou Ary-Jana wieder, und Ary-Jana erklärte ihre fehlende Erreichbarkeit damit, daß sie keine Zeit gehabt habe, weil sie gerade mit ihrem Freund im Bett gewesen sei. Solche Ereignisse und viele andere, bei denen Joujou sich von Ary-Jana enttäuscht sah, führten dazu, daß Joujou immer wütender auf Ary-Jana wurde.
Joujou und Ary-Jana haben anfangs viel in ihre Freundschaft investiert. Als Geschenk für Ary-Jana hat Joujou zwei Katzenöhrchen selbst genäht, innen aus rosa Satin und außen aus schwarzem Fell, und diese Katzenöhrchen hat sie an einem Haarreif befestigt. Ary-Jana kann sich nun als Katze "verkleiden". Ary-Jana mag den Haarreif sehr, sie trug ihn auf dem Pfingstfestival. Ary-Jana sieht sich als Katze und hat schon als Fetisch-Kätzchen für Fotografen posiert. Darienne sieht sich als Barbie-Puppe und hat auch schon für Fotografen posiert, noch häufiger als Ary-Jana.
"Wann hat Darienne sich denn zuletzt fotografieren lassen?" erkundigte ich mich.
"Das ist lange her", antwortete Joujou.
"Warum macht sie es nicht weiter?" fragte ich nach. "Es wäre doch eine Einnahmequelle für sie."
"Das hat andere Gründe", meinte Joujou mit wissendem Blick.
"Rafa hält sie davon ab, sich zu verwirklichen und beruflich vorwärtszukommen", vermutete ich. "Das hat er ja auch mit Tyra gemacht. Er hat ihr beinahe die Ausbildung ruiniert."
Joujou hat meine E-Mail gelesen, in der ich Rafas frauenfeindlichen Flyer abgebildet habe. Joujou meinte, ein solcher Flyer sei nicht nur gefährlich für das Image von Kappa, sondern auch für das Image des "Mute". Joujou hat den Flyer einem Bekannten gezeigt, der für seine Frauenfeindlichkeit berüchtigt ist. Sogar der kommentierte ihn mit:
"Autsch."
Joujou zeigte mir einen Ring, den sie an einer Kette um den Hals trug. Sie erzählte mir die Geschichte dazu:
Der Ring ist der Ehering von Marvels Großmutter. Marvels Großeltern sollen fünfzig Jahre lang eine glückliche Ehe geführt haben. Sie heirateten im Krieg; aus diesem Grunde hatten sie nur sehr schlichte "Kriegs-Ringe" ohne Gravur. Nach dem Tod seiner Frau verfiel Marvels Großvater in Depressionen und begann zu trinken. Das warf ihn nach kurzer Zeit aufs Sterbelager. Ohne Wissen der übrigen Familie gab er seinem Enkel Marvel die beiden Ringe und bat ihn:
"Gib den Ring deiner Oma der Frau, mit der du ein Leben lang zusammenbleiben willst."
Bis er Joujou kennenlernte, trug Marvel beide Ringe um den Hals, und nun gab er Joujou den Ring seiner Großmutter. Noch immer weiß keiner aus Marvels Familie, daß er die Trauringe von seinem Großvater bekommen hat.
Marvel war bereits in Joujou verliebt, bevor er mit Sylphide zusammenkam, der Freundin, die er vor Joujou hatte. Er erzählte Joujou aber nichts von seiner Verliebtheit, weil diese mit Marian zusammen war. Er dachte sich, da seine Traumfrau vergeben sei, habe er keine Chancen bei ihr, und so kam es, daß er erst einmal Sylphide aussuchte. Joujou machte sich ihrerseits keine Hoffungen auf Marvel, weil er mit Sylphide zusammen war.
Joujou erzählte, daß Marvel am Sonntag dreißig wird und daß sie ohne sein Wissen das "Fegen" für ihn vorbereitet, bei dem sie auch mich dabeihaben will. Marvel soll in BI. die Rathaustreppe fegen.
Joujou erzählte vom Himmelfahrtstag Ende Mai. Sie war in der Nacht davor im "Zone" gewesen und noch müde. Am Nachmittag fuhr sie mit Marvel eine abgelegene Straße entlang, einen Privatweg, der zu dem Haus seiner Eltern führt. Auf einmal glaubte sie eine Mädchenstimme zu hören, die rief:
"Hilfe! Hilfe! Ich bin hier!"
Sie sagte zu Marvel:
"Da ist was. Irgendwas ist da."
Sie bat ihn, ein Stück zurückzufahren, bis das Auto dort stand, wo sie die Stimme gehört hatte. Sie stieg aus und fand einen Durchbruch in den Büschen, einen schmalen Weg. Der führte auf einen Gedenkstein zu. Der Stein erinnerte an zwei acht und zehn Jahre alte Mädchen, die auf den Tag genau vor fünfundzwanzig Jahren vergewaltigt und ermordet wurden, auf der Lichtung, die sich hinter dem Stein befand. Joujou ging nach dieser Entdeckung in ein Zeitungsarchiv und bat darum, daß ihr der Zeitungsartikel über den Tod der beiden Kinder ausgedruckt wurde.
Am Samstag war ich abends bei Constri, die ihren Geburtstag nachfeierte. Vor Constris Wohnungstür lagen Stöcke aus dem Park, der die Wohnsiedlung umgibt. Die Stöcke waren ordentlich nebeneinandergelegt. Constri erzählte, daß die Stöcke Denise gehören. Sie habe bisher noch gar nicht gewußt, wie wichtig Stöcke für Kinder seien. Als Flex einen von Denises Stöcken wegschleppte, habe Denise schrecklich geweint.
Clarice berichtete, daß Leander bei ihr ausgezogen ist, zurück in sein Elternhaus.
Derek erschien nicht auf der Party, dafür Ray. Ich bewunderte Rays langen schwarzen Rock mit den vielen Zierschnallen.
Terry erzählte, daß Clara nach wie vor Kontakt zu ihr hält, während Constri und ich ihr nicht mehr fein genug sind. Terry hat keine Lust, Clara nach den Gründen zu befragen. Ray vermutet, daß Claras Verhalten mit ihren eigenen Problemen zusammenhängt.
Sadia erzählte, daß Osman und sie ihr Möbelgeschäft schließen und einige Straßen weiter neu eröffnen, in der Fußgängerzone, wo es mehr Laufkundschaft gibt. Sadias jüngere Schwester läßt sich großzügig von Sadia unterstützen und beschwert sich, wenn der Geldstrom nicht so weiterfließt, wie sie es gerne hätte.
"Solange du dich immer wieder erweichen läßt, greift sie immer wieder auf dich zurück, anstatt auf eigene Füße zu kommen", sagte ich zu Sadia. "Und du siehst ja, daß sie deine Hilfe nicht mit Dankbarkeit, sondern mit Vorwürfen beantwortet. Sie weiß deine Unterstützung nicht zu würdigen. Du hilfst ihr ohnehin nicht damit, weil sie sich dann immer auf dich verläßt, anstatt selbständig ihr Leben in den Griff zu bekommen. Ich rate dir, konsequent zu sein und ihr die Unterstützung zu entziehen, so hilfst du ihr am ehesten, erwachsen zu werden."
Am Sonntag war ich in BI. auf dem Rathausplatz. Im strahlenden Sonnenschein mußte Marvel einen Sack bunt glitzernder Flaschenverschlüsse zusammenkehren, die Joujou und Heloise auf die Rathaustreppe gekippt und weitläufig verteilt hatten. Marvels Partygäste standen in einer Reihe davor und feuerten ihn an. Als es um die Jungfrau ging, die Marvel freiküssen sollte, löste Heloise die Situation pragmatisch. Sie ging auf ein Pärchen zu und entführte dem Mann seine Freundin, eine langhaarige Blondine. Die küßte Marvel frei und ging dann mit ihrem Freund weiter.
Mit Heloise unterhielt ich mich über das Ritual des Freiküssens. Ich dachte darüber nach, was ich getan hätte, wenn Rafa die Treppe gekehrt hätte. Für mich hat sich die Frage allerdings erübrigt, weil Rafa seinen dreißigsten Geburtstag nicht mit mir gefeiert hat.
Auf der Terrasse des Häuschens im Grünen, wo Marvel in einer Männer-WG lebt, wurde gegrillt. Marvels DJ-Kollege Conri erzählte, daß er von W.E absolut nichts hält. Einmal begegnete er Dolf im "Zone", vor etwa zehn Jahren. Dolf trug rote Lackshorts, dazu sein Bühnensakko. Conri dachte:
"Gut, daß hier kein Gay-Laden ist, sonst müßte Dolf immerzu nach hinten sichern."
Etwa in jener Zeit geschah es, daß Conri eine Party in der "Halle" besuchen wollte, mit W.E als Live Act. Conri bat an der Kasse, man möge ihn kostenlos einlassen, denn:
"Ich will die Band nicht sehen, ich will nur zu der Party! Und es ist kalt draußen, ich will nicht erfrieren! Bitte laßt mich durch, ich stecke mir auch Ohropax in die Ohren."
Die Leute an der Kasse lachten und ließen ihn ein, ohne zu bezahlen.
Jeanne war heute bei ihrem Vater Marian. Joujous jüngste Halbschwester Lacy ist nur wenig älter als Jeanne. Joujous Mutter brachte Lacy heute mit, ein anderthalbjähriges blondgelocktes Mädchen.
Gegen fünf Uhr nachmittags besuchte ich meine Schulfreundin Odette, die ebenfalls ihren Geburtstag feierte. Sie ist mit ihrem Mann Quentin in die Innenstadt von H. gezogen, wo sie einen Schreibwarenladen übernommen haben. Odette zeigte mir ihre Steiff-Teddys. Auch für ihr Kind, das im August zur Welt kommen soll, hat sie schon Steiff-Tiere gekauft. Einer von Odettes Sammlerteddies ist der Fußball-Steiff-Bär. Ich meinte, dieser Teddy wäre wohl als Maskottchen für die WM in Deutschland besser geeignet gewesen als das offizielle WM-Maskottchen Goleo VI, denn im Gegensatz zu Goleo VI trage der Teddy Hosen, gucke geistvoll und sei ein Tier, das ursprünglich auch in Deutschland vorgekommen sei. Inzwischen gibt es in Deutschland allerdings kaum noch Bären in freier Wildbahn. Braunbär Bruno, der schon seit Wochen gejagt wird, ist ein Medien-Ereignis. Im Radio gibt es Sketche über Bruno zu hören, darunter das "Bären-Radio" mit den neuesten Nachrichten über den "Problembären" Bruno. Ein Partygast erzählte, daß schon in den USA über die Bärenjagd gewitzelt wird. Die Erfolglosigkeit der Jagd führte inzwischen dazu, daß Bruno zum Abschuß freigegeben wurde. Hierüber regen sich die Tierschützer auf. Einige Tierschützer wollen als Bären verkleidet durch die Alpen ziehen und die Jäger verwirren.
Bereits am nächsten Morgen wurde Braunbär Bruno erlegt. Das Boulevardblatt, das zuvor leere Nutztierkäfige beweint hatte, beweinte jetzt Bruno und brachte auf der Titelseite eine Zeichnung des Medienbärs, in Ermangelung eines Fotos.
In Denises Spielkreis gab es eine Abschiedsfeier, weil alle Kinder jetzt in den Kindergarten kommen. Denise und ihr Freund Iko zogen sich gemeinsam zurück. Iko setzte sich in das Spielhäuschen im Garten, Denise stellte sich draußen an die Fensteröffnung, dicht neben Iko. Sie hielt eine Babypuppe im Arm, die sie in eine Deutschlandfahne eingewickelt hatte.
"Wie eine Familie", dachte Constri und fotografierte die Szene.
Denise spielt gerne Rollenspiele, auch mit ihren Puppen. Sie versinkt dann ganz in der Phantasiewelt.
"Das hat sie von mir", ist Constri sicher. "Früher habe ich genauso gespielt."
Denise freut sich, daß sie jetzt ein Kindergartenkind ist. Weil ihre Schuhe für den Kindergarten mit ihrem Namen beschriftet wurden, hat Denise auch die Schuhe ihrer Puppe Baby Min gekennzeichnet, denn die muß ja mit ihr in den Kindergarten. Denise singt Baby Min gerne das Tischgebet aus dem Spielkreis vor:

Jedes Tierlein hat sein Essen,
jedes Blümlein trinkt von dir.
Hast die Kinder nicht vergessen,
lieber Gott, wir danken dir.

Weil Baby Min aber kein Kind, sondern eine Puppe ist, singt Denise für Baby Min ein eigenes Gebet:

Jedes Tierlein hat sein Essen,
jedes Blümlein trinkt von dir.
Hast die Puppen nicht vergessen,
lieber Gott, wir danken dir.

Anfang Juli hatte ich folgenden Traum:

Bisat stand vor dem Bügelbrett. Ich streichelte ihn. Er lief geschäftig zum Flur und ins andere Zimmer, wo es dunkel war.

"Solange er in der Erinnerung lebt, ist er nicht tot", dachte ich.
Constri und ich haben in der Julihitze unsere Lieblings-Cola von der Tankstelle geholt, die koffeinreiche Afri-Cola. Dazu holten wir eine Schachtel Eiskonfekt. In Constris Stube mußten wir das Konfekt schnell essen, bevor es schmolz. Danach zeigte ich Constri Dariennes Internetseite, auf der Darienne in verschiedenen Model-Posen zu sehen ist - und nicht viel mehr. Constri hat den Eindruck, daß Darienne vorwiegend mit sich selbst beschäftigt ist.
"Die sieht aus wie eine Puppe", meinte Constri. "Und die hat sowas Arrogantes und Nuttiges ... Die wirkt eingebildet und ichbezogen."
Zu meinem Erstaunen findet Constri, daß die erst neunzehnjährige Darienne alt wirkt:
"Die guckt alt."
Am Freitag war ich im "Roundhouse". Marvel spielte unter anderem "Mekanosaurus" von Xebox, "Mechanomatica" von Hypnoskull und "Clubbed to death (Kurayamino Mix)" von Rob D. Letzteres gab Marvel mir mit, so daß ich es mir brennen kann. Joujou erzählte, daß sie von Darienne schon lange nichts mehr gehört hat. Heather erzählte von ihrem neuen Freund. Er rede von Familiengründung und sei sehr lieb, nur sei sie nicht in ihn verliebt. Sie sei mit ihm zusammen, um nicht allein zu sein, denn sie sei mehrere Jahre lang allein gewesen. Ihr Freund sei Reggae-Fan und wolle nicht mitkommen ins "Roundhouse".



Am Samstag fuhren Constri und ich nach HB., wo Rufus und Geneviève eine Grillparty gaben. In dem begrünten Hof hinterm Häuschen stand ein Lava-Grill. Gegrillt wurde über glühenden Lavasteinen. Es gab Schaschlik-Spieße.
Einer der Gäste stammt aus ES., wie Giulietta. Die beiden unterhielten sich über ihre Heimat.
Ein anderer Gast ist Chirurg und erzählte von einem Krankenhaus, wo die Chirurgen bis zu zwölf Nachtdienste im Monat machen müssen. Er ist in die Selbständigkeit geflüchtet.
Marianna erzählte, daß sie von Dag verlassen wurde. Allzu traurig ist sie deswegen nicht. Sie meinte, eine Pause tue ihr gut, nach mehreren labilen und anstrengenden Partnern, zu denen auch Dag gehört.
Von dem schwer psychisch kranken Ciril hat Marianna schon länger nichts mehr gehört. Sie meinte, Ciril müsse eigentlich in eine betreuten Wohnform ziehen, denn er komme im Alltag nicht zurecht. Immer wieder lasse er seine Wohnung verwahrlosen. Er habe schon zahlreiche Selbstmordversuche unternommen. Seine Hilfsbedürftigkeit sehe er nicht ein.
Marianna ist Erzieherin und nach einem ausgelaufenen Vertrag auf Stellensuche. In den nächsten Tagen hat sie wieder ein Vorstellungsgespräch. Sie will sich nicht zu früh freuen. Sie betrachtet eine Sache lieber etwas negativer, um nicht enttäuscht zu sein, wenn daraus nichts wird. Wenn sich dann doch ein Wunsch erfüllt, kann sie sich umso mehr freuen.
"So ähnlich halte ich es auch", erzählte ich.
Erdnußkopf fotografierte Constri vor einer blühenden Clematis. Derek saß mit seiner jetzigen Freundin Juno auf einer Gartenbank, und ich hatte den Eindruck, daß Derek immer ein wenig den Kopf einzog, als wenn sich Schuldgefühle bei ihm meldeten.
Im Wohnzimmer beschäftigte Derek sich mit seinem Laptop. Als Hintergrundgrafik ist ein Foto von Denise zu sehen, wie sie mit vergnügter Miene auf Dereks Bett liegt.
Juno wirkte bieder in ihrem rosafarbenen Trägertop und nicht so recht passend zu der illustren Schar, die sich bei Rufus und Geneviève versammelt hatte. Später am Abend schien sie sich durchaus zu amüsieren. Als ich mir pinkfarbene Knicklicht-Stäbe in die Frisur steckte, gab ich Juno auch eines ab, in dem von ihr gewünschten Pink. Dann wanderte ich durch das Partyvolk, von denen viele gebannt im Hof vor einen eigens dort aufgestellten Fernseher saßen und das Spiel um den dritten WM-Platz verfolgten. In der hereinbrechenden Dunkelheit verteilte ich Leuchtstäbchen um Leuchtstäbchen an die Partygäste und berücksichtigte dabei die jeweiligen Farbwünsche. Constri und ich bestaunten, wie die Erwachsenen wieder zu Kindern wurden, als sie mit den Stäbchen spielten. Einige steckten sich die Stäbchen ins Haar, andere hinters Ohr, an die Kleidung, unters T-Shirt, oder die Stäbchen, die in einem Haarknoten steckten, wurden mit Verbindungsstücken verlängert, so daß sie an Insektenfühler erinnerten, oder sie wurden zu Armreifen zusammengefügt. Terry und Linus verwendeten ihre Stäbchen als Lichtschwerter für Scheingefechte. Drees warf sein Stäbchen immer wieder in die Luft.
Nachdem Deutschland 3:1 gegen Portugal gewonnen hatte, wurde der Fernseher in den Schuppen zurückgefahren, und aus den im Hof aufgestellten Boxen kam Industrial-Tanzmusik. Die Gäste ließen sich anstecken und tanzten im Hof zu Clubhits wie "This shit will fuck you up" von Combichrist. Ich mußte mittanzen, Constri ebenfalls, und dadurch verschob sich der Aufbruch für Constri und mich um eine halbe Stunde.
Gegen halb zwei Uhr früh kam ich ins "Nachtbarhaus", wo Rafa auflegte. Rafa stand am DJ-Pult, mit weißem Hemd, schwarzer Weste und großer schwarzer Sonnenbrille. Darienne saß an einem der Tische auf dem Podest. Sie war kreideweiß geschminkt und trug mehrere Lagen künstlicher Wimpern.
Ich trug eine pinkfarbene Corsage, die mit schwarzer Spitze und schwarzen Satinschleifchen verziert ist. Dazu trug ich ein schwarzes Collier, lange schwarze Abendhandschuhe und durchsichtige schwarze Röcke aus Tüll, Spitze und Satin. Die beiden pinkfarbenen Knicklicht-Stäbe trug ich wie japanische Knotennadeln in der Frisur.
Kurz nachdem ich im "Nachtbarhaus" erschienen war, begab Darienne sich zu Rafa hinters DJ-Pult und blieb dort die meiste Zeit. Sie schien Rafa zu bewachen. Mehrmals sah ich sie unverhohlen in meine Richtung schauen. Weder Rafa noch Darienne gingen auf die Tanzfläche. Sie mieden die anderen Gäste, sie schotteten sich ab. Rafa verwendete Darienne als "Glücksfee" bei der Verlosung von Tattoo-Gutscheinen. Ansonsten stand Darienne mit gelangweilter Miene neben Rafa, der sich ihr nur selten zuwandte. Ob Rafa mich ansah, war wegen der Sonnenbrille nicht zu erkennen. Er setzte sie niemals ab. Einmal, als ich meine Cola von einem Tischchen nahm, konnte ich Rafa zulächeln, und ich blickte in ein bemüht unbewegtes Pokerface.
Ein Mädchen namens Georgette sprach mich an und erzählte, sie habe mich schon so oft gesehen. Und heute hätte ich Leuchtstäbchen im Haar, da sei es Zeit für sie, mich kennenzulernen. Georgette und ich setzten uns auf den Rand der Bühne. Mitten auf der Bühne stand eine provisorische Totenbahre, darauf lag eine männliche Schaufensterpuppe, die ziemlich maltraitiert aussah. Veranstalter Toro hatte die Dekoration seinem Partymotto "Autopsie" angepaßt. Mit Georgette unterhielt ich mich über Rafas frauenfeindlichen Flyer, der im "Nachtbarhaus" überall herumlag. Auch Georgette findet den Flyer indiskutabel.
Rafa legte besser auf, als ich erwartet hatte, und ich war häufig auf der Tanzfläche. Unter anderem spielte Rafa "Stukas im Visier" von Feindflug, "Warren Suicide" von Warren Suicide, "Bloodmoney" von Dive - das an das "Elizium" erinnert -, das von mir sehr geliebte DAF-Stück "Alle gegen alle" in der Version von Laibach, "Song of the wind" von Project Pitchfork - das in mir traurige Erinnerungen an die Zeit weckt, als ich Rafa kennenlernte -, "Space Cowboys" von Sigue Sigue Sputnik, "Being boiled" von Human League, "Love like blood" von Killing Joke, "Herzlos" von Stratis - das an das "Nachtlicht" erinnert -, "T.V.O.D." von The Normal und - passend zu Rafas Outfit - "I wear my sunglasses at night" von Corey Hart.
Cynric, den ich durch Evelyn kenne, erzählte mir von seinen eigenen Bühnen-Erfahrungen: Selbst wenn er auf einer kleineren Bühne aufgetreten sei, als unbekannter Act, hätten sogleich Scharen von Mädchen ihn umlagert, kaum daß er von der Bühne gestiegen sei. Dieses Phänomen sei ihm unbegreiflich. Er habe doch nichts getan, als auf einer Bühne zu stehen und einige Stücke vorzutragen. "Das funktioniert wie ein Tierversuch", meinte ich. "Nimm eine Halle, stelle ein Podest von einem Meter Höhe hinein, stelle einen beliebigen Mann auf das Podest, gib ihm eine Mikrophon-Attrappe in die Hand, lasse Musik laufen, zu der er tut, als würde er singen, und mache ein paar Lichteffekte, das genügt! Dieser Versuchsaufbau zeigt im Experiment, daß bereits eine Attrappe genügt, um ein bestimmtes Verhalten auszulösen. Und ich sage dir, Rafa fällt selbst darauf herein. Er fällt auf seine eigene Fassade herein. Er fällt auf die Illusion herein, die er selbst geschaffen hat. Er gaukelt nicht nur dem Publikum vor, der große strahlende Held zu sein, er gaukelt es sich auch selber vor und hält sich wirklich für so großartig."
Ich erzählte von den gegenläufigen Entwicklungen bei Rafa und mir. Mein Freundeskreis vergrößere sich, Rafa hingegen isoliere sich. Seine Fans feierten zwar seine Musik, doch er selbst sei ihnen ziemlich gleichgültig. Rafa jedoch halte sich durch ihre Verehrung für einen Gott.
Cynric erzählte von einem Bekannten namens Kerian, der mit Rafa und Dolf aufgewachsen ist. Früher hätten Rafa, Dolf und Kerian viel gemeinsam unternommen, doch seit Rafa und Dolf mit der Band W.E auf ihrem Höhenflug seien, kümmerten sie sich nicht mehr um Kerian. "Höhenflug" bedeutete in diesem Zusammenhang weniger "Karriere" als vielmehr "Arroganz".
Cynric erkundigte sich, wie alt Rafa ist. Ich erzählte, daß Rafa fünfunddreißig Jahre alt ist und daß er seit zwölf Jahren keiner geregelten Arbeit mehr nachgeht, weil er damit rechnet, ein berühmter Popstar zu werden.
"Musik ist ein Hobby", meinte Cynric. "Das macht man nebenbei. Es gibt doch fast keinen, der davon leben kann."
"Rafa kann bestimmt nicht davon leben."
"Rafa fährt sicher an die Wand", sagte Cynric voraus, "man muß ihm keinen Schubs mehr geben. Sein Untergang ist vorprogrammiert. Zwei Alben bringt er vielleicht noch heraus, dann ist Schluß."
Darienne verließ das "Nachtbarhaus", Rafa blieb noch für etwa eineinhalb Stunden. Einmal nur sah ich ihn das DJ-Pult verlassen. Er ging hinter der Bar bis in die Nähe des Ausgangs, redete dort für kurze Zeit mit einigen Leuten und kam dann wieder zurück ans DJ-Pult. Sorgsam vermied er die Nähe des Publikums.
Als es draußen hell wurde, saß ich auf einer Polsterbank mit guter Sicht auf Rafa und wartete ab, was geschehen würde. Rafa schien seinerseits zu warten. Während ich für wenige Minuten im Bad war, machte er sich davon. Er hatte die Anlage so programmiert, daß die Musik weiterlief, als sei er noch da.
Berenice hat einen neuen Text auf ihre Website gestellt:

Du bist es nicht
Du sahst mich an, ein tiefer Blick. Doch was lag schon darin?
Der Anfang schön im bunten Licht. Schnell war ich verliebt.
Dein Herz schien für immer mein.
Kalt - Deine Liebe so kalt.
Deine Worte so leer.
Ich erfriere neben Dir.
Deine Liebe so kalt.
Ich war in uns verloren.
Ertrank in diesem falschen Glück voller Lügen und Tränen.
Ich musste raus!
Du versprachst mir Liebe, Glück und Halt.
Neue Welten, Geborgenheit.
All die Jahre fand ich dies niemals in Dir.
Ich musste raus!

Tyra erzählte am Telefon, daß Rafa sie nach wie vor im Abstand von wenigen Tagen anruft. Meistens lädt er sie zu sich ein und will dann mit ihr ins Bett. Es kommt auch vor, daß er mit ihr schwimmen gehen will.
Tyra hat auf Rafas Handy heimlich die SMS-Eingänge durchgesehen. Sie entdeckte eine SMS, die Darienne ihm Anfang Juni geschickt hat:

Stell dir vor, deine Freundin unterschreibt morgen einen Arbeitsvertrag, kreisch. Bis später, Schatz.

Immerhin hat Darienne sich doch noch entschieden, arbeiten zu gehen, anstatt nur für ein Taschengeld als Rafas Bühnen-Staffage zu dienen.
Rafa hat bei Tyra inzwischen alle Schulden bezahlt. Sie hat von dem restlichen Geld den Laminatboden für eine Einliegerwohnung gekauft, die sich in dem Haus befindet, wo Tyras Mutter und ihr Lebensgefährte wohnen. Tyra möchte dorthin ziehen.
Mitte Juni waren Constri und ich im "Mute". Es gab ein Festival, auf dem Shnarph! und This morn' omina auftraten. Wir tanzen fast durchgehend. Zara und Ace waren auch im "Mute". Nach den Konzerten unterhielten Zara und ich uns über Rafas Untreue und Gewalttätigkeit. Zara fragte mich, ob ich immer noch an Rafa hänge, trotz allem, was ich über ihn weiß.
"Das ist es ja", seufzte ich. "Meine Gefühle für Rafa bestehen unabhängig von seinem Charakter."
Kappa zeigte mir auf seinem Palm Fotos von Maya, die ihrer Mutter immer ähnlicher wird. Die Ähnlichkeit zwischen Maya und Edaín ist mir schon auf einem Bild aufgefallen, das Maya im Alter von wenigen Tagen zeigt.
Wave erzählte am Telefon, daß er nicht darüber hinwegkommt, daß Shannon sich von ihm getrennt hat. Er stand schon auf einer Brücke und empfand das Gefühl als befreiend, jederzeit springen zu können. Als Mittel gegen Selbstmordgedanken riet ich ihm, Pläne zu schmieden und Projekte zu beginnen. Wave beschloß, sich nicht umzubringen, ehe er im Dezember seinen Geburtstag gefeiert hat.
Darienne will für W.E die drei Fahnen ausleihen, die Wave gemeinsam mit zwei anderen Fans im "Memento Mori" geschwenkt hat. Cyris ist wütend auf Wave, weil er mit seinen beiden Kumpanen fahnenschwenkend durch L. gezogen ist, mit Bierflaschen und lauten Gesängen. Sie liefen Werbung für W.E, doch das erkannte Cyris nicht an. Sie rügte den Stil dieser Reklame-Prozession. Sie findet, Wave und seine Begleiter hätten durch die Albernheit des Spektakels das Ansehen des "Senders" beschmutzt.
"Das ist doch eure Sache, wie ihr Werbung macht", meinte ich.
In der Samstagnacht fuhren Constri und ich zu "Stahlwerk". Donar und Sasso erschienen mit Tarnanzügen und grimmigen Mienen. Darien erschien nicht und wurde vermißt. Obwohl man ihm seine Krankheit nicht ansieht, scheint Darien sich deswegen minderwertig zu fühlen. E-Mails unterschreibt er mit "Behindi-Darien". Dagda meinte, es sei schwer, Dariens E-Mails zu entschlüsseln. Die verborgene Botschaft befinde sich zwischen den Zeilen. Von außen sei Darien nicht anzumerken, wie unsicher er sei. Ich bat alle seine Freunde, ihm zu mailen, wie sehr man ihn bei "Stahlwerk" vermißt. Das will ich ebenfalls tun.
Die Musik bei "Stahlwerk" war tanzbar wie gewohnt, unter anderem liefen "Mechanomatica" von Hypnoskull und "Incubus" von Dulce Liquido.
Constri gab Delan eine DVD mit ihrem Musikvideo "Klangstrom C". Für dieses Video hat sie überwiegend Aufnahmen von der letzten "Stahlwerk"-Party verwendet. Eine wichtige Rolle spielen außerdem die meditativen Aufnahmen von Blanca und Ted in Teds Fabrikhalle. Man sieht die beiden als Schattenrisse vor großen Fenstern stehen und wie Roboter in Trance miteinander tanzen. Als Musik hat Constri ein ruhiges, dahinfließendes Stück von Derek verwendet, das gut zu dem meditativ-versunkenen Charakter des Videos paßt.
Constri und ich unterhielten uns über narzißtisch-dissoziale Persönlichkeiten, zu denen profitgierige und skrupellose Unternehmer und Spekulanten zählen und Präsidenten wie Bush, dem das Stück "Der Sheriff" von DAF gewidmet ist, ein Tanzflächen-Bringer auf Szene-Parties.
"Solche Menschen haben sich dem Bösen zugewandt", meinte ich. "Sie haben keine lebenswerten Inhalte und glauben, durch das Streben nach Macht und Besitz Erfüllung zu finden. Dieser Weg führt aber ins Leere. Diesen Menschen geht es nicht darum, ausreichend Macht und Geld zu haben, um Träume zu verwirklichen und Wünsche zu erfüllen. Es geht ihnen nur darum, mehr als die anderen zu haben. Die reden so:
'Also, ich habe da eine Firma mit tausend Mitarbeitern ...'
'Der mit seinen tausend ... ich habe eine Firma mit zehntausend Mitarbeitern.'
'Also, ich habe da ein Land, das Land der Dichter und Denker.'
'Ach, nur so ein kleines Land. Ich habe ein Land, das ist noch viel größer.'
Daß ihnen aber so eine Firma oder so ein Land nie ganz gehören kann, weil ihnen die Menschen darin nie ganz gehören können, ist diesen Leuten nicht klar. Daß all diese Menschen ihr eigenes Leben führen, von dem die Chefs und Politiker nichts mitbekommen und nichts verstehen, ist den Chefs und Politikern nicht klar. Sie begreifen nicht, daß ihnen die Menschen nicht gehören können und daß auch die Städte und Firmen ein Eigenleben führen. Sie versteigen sich nur immer weiter:
'Also, ich habe da einen Saturn, der hat Ringe, die habe ich frisch poliert.'
'Ach, nur ein Saturn. Ich habe einen Jupiter, der ist viel größer.'"
"Das ist Kindergartenniveau", wußte Constri. "Genauso reden die Kinder im Kindergarten. Einmal hat ein Mädchen zu Denise gesagt:
'Mein Kleid ist länger als deins.'"
"Siehst du, und jetzt wissen wir, auf welchem Niveau die Chefs und Politiker stehengeblieben sind."
Narzißtisch-dissoziale Menschen wollen alles um sich herum kontrollieren und beherrschen, geraten letztlich aber zu Witzfiguren. Sie wollen respektiert werden, doch je opulenter und brutaler sie ihre Macht demonstrieren, desto weniger werden sie ernstgenommen.
Constri erzählte, daß Denise neuerdings eine Zahnprothese hat. Dabei handelt es sich um eine Wasserpistole in Form eines Seepferdchens. Denise legte die Wasserpistole abends ins Kukident-Bad und setzte sie morgens ein, und Constri durfte nicht lachen.
Denise findet es spannend, Tabletten zu nehmen. Sie ißt Traubenzucker-Bonbons und spült mit Wasser aus ihrer Nuckelflasche nach.
Denise ist dabei, die Uhr zu lernen. Kürzlich stellte sie nach einem Blick auf die Wanduhr fest:
"Es ist schon halb Uhr."
Am Sonntag war ich nachmittags bei Marie-Julia und Nic. Sie zeigten mir das frisch eingerichtete Kinderzimmer. Vier Wochen soll es noch dauern, bis der Nachwuchs angekommen ist.
Es gibt Neues aus Kingston. Die äußerst aggressive Kollegin Wilrun hat geheiratet - einen wesentlich älteren, gut situierten Mann - und wird zu ihm nach B. ziehen. Dies dürfte bedeuten, daß sie aufhört, in Kingston zu arbeiten.
Marie-Julia und ich machten Fotos im historischen Ortskern von Mb. Das Dorf entstand um einen Brunnen, wo ein Hirte im Mittelalter eine Marien-Erscheinung hatte. Der Brunnen wurde zur Wallfahrtsstätte. Er ist überbaut mit einer Kapelle, die nur für Gottesdienste und Wallfahrten geöffnet wird. Durch ein Fenster konnte man drinnen eine alabasterweiße Madonnenfigur sehen und zu ihren Füßen die plätschernde Quelle, umgeben von einem schmiedeeisernen Gitter.
Die Marienkirche steht oberhalb der Wallfahrtskapelle an einem flachen Hang. Der Kirchvorplatz liegt im Schatten großer Ahornbäume. Rechts vom Portal führt ein niedriges Tor in einen Kreuzgang. Über dem Torbogen mahnt ein Schild:
"Betreten auf eigene Gefahr."
"Dann kann es nicht verboten sein", folgerte ich.
Drinnen entdeckten wir eine Treppe, die ins Obergeschoß führte. Dort war alles staubig und schien seit vierzig Jahren nicht mehr bewohnt zu sein. Die Räumlichkeiten haben den Schnitt und das Aussehen einer Wohnung aus dem frühen neunzehnten Jahrhundert, freilich völlig leergeräumt. Holzdielen knarrten. Ein Raum im hinteren Teil der Wohnung hat vergitterte Fenster und einen Steinboden. An die Wand über der Tür ist ein halb abgeblätterter, deshalb nicht mehr vollständig lesbarer lesbarer Spruch gepinselt. Eine Tafel verriet, hier befinde sich das Archiv eines hochadeligen Frauenklosters.
"Das ist ein Drehort für ein Video", freute ich mich.
Mit Hilfe des Internets konnte ich den Spruch vervollständigen, der an der Wand des Archivs steht. Er lautet:
"Seine Pflichten nicht versäumen ist mehr, als große Dinge träumen."








.
Am Donnerstag war ich in der "Spieluhr". Rafa stand mit Sonnenbrille, schwarzer Weste und blauem Batik-Oberteil am DJ-Pult, das sich über der Theke befindet. Dort oben ist der DJ kaum zu sehen und weit weg vom Publikum. Rafa blieb während der Veranstaltung am DJ-Pult, Darienne hielt sich unten auf. Sie redete mit mehreren Leuten, auch Anwar unterhielt sich mit ihr. Selten war Darienne auf der Tanzfläche. Sie war schlicht gekleidet, wie ein Schulmädchen, mit Brille, rosa T-Shirt und schwarzen Leggins. Über der Schulter trug sie eine rosa Handtasche.
"Unbedarfte Schulmädchen, das ist das Richtige für Rafa", dachte ich. "Die können ihn nicht überstrahlen und ihm nicht die Armseligkeit seines Daseins vor Augen führen."
Ich ging ganz in Schwarz und trug die sehr ausgeschnittene Samtcorsage mit der Schnürung vorne, mehrere durchsichtige Spitzenröcke übereinander und lange Abendhandschuhe. Ich hatte mir das Haarteil mit den langen Zöpfchen angesteckt und ein breites Spitzen-Haarband umgebunden. Wenn es mir auf der Tanzfläche zu heiß war, nahm ich einen schwarzen Spitzenfächer mit. Rafa spielte einige Stücke, zu denen ich tanzte, darunter "Being boiled" von Human League, "T.V.O.D." von The Normal und "Suicide Commando" von No More.
Highscore unterhielt sich mit einen verwegen aussehenden Herrn namens Cagnar über die Alkoholmengen, die man bei verschiedenen Parties zu sich genommen hatte. Cagnar kennt mich aus dem "Keller" und erzählte mir, daß er gerade sein Examen bestanden hat und jetzt Altenpfleger ist. Er bekommt eine Stelle in einem Altenheim, das eben erst fertiggestellt wurde. In dem Heim, wo er seine Ausbildung gemacht hat, hat es ihm gut gefallen. Mit einem Bewohner, der erst Anfang Fünfzig ist, hat Cagnar schon Trinkgelage gefeiert, das sei sehr lustig gewesen. Ich vermute, der Bewohner mußte wegen der Folgen übermäßigen Alkoholkonsums ins Heim.
Cyris erzählte von ihrer Doktorandenstelle als Biologin in OL. Ihr Projekt befaßt sich mit Alternativen zum Antibiotikaeinsatz im Landbau. Bisher werden Antibiotika regelhaft als Pflanzenschutzmittel verwendet.
Cyris war mit Xenon und Luna in der "Spieluhr". Sie übernachtete heute bei den beiden.
Am DJ-Pult sah ich Rafa abwechselnd Kaugummi kauen und rauchen. Er schien dort oben ganz allein zu sein.
Wie immer am Donnerstag in der "Spieluhr" endete die Veranstaltung um zwei Uhr nachts. Als das letzte Stück verklungen und der Gong ertönt war, dauerte es noch eine Weile, bis Rafa herunterkam und an der Theke von Darienne empfangen wurde. Umringt von mehreren Leuten, blieb er dort stehen. Ich sah, daß er den langen schwarzen Rock anhatte, der mir gut gefällt. Die Sonnenbrille nahm Rafa nie ab.
Ich stellte mich vor eine treppenförmige Sitzbank am Rand der Tanzfläche und redete mit Cyris und Cagnar. Rafa ging zu Xenon und Luna, die einige Schritte entfernt standen. Er gab ihnen die Hand und redete kurz mit ihnen.
"Wenn ich jetzt zu denen hingehe, läuft Rafa weg", dachte ich, "also tue ich es gar nicht erst."
Rafa ging wieder zur Theke. Ich ging zu Xenon und Luna. Rafa wandte sich nun Cyris und Cagnar zu und reichte ihnen über die Sitzbank hinweg die Hand. Cagnar erzählte, daß er gerade Cyris zu überreden versuchte, ihn in seinem Auto nach SHG. zu fahren.
"So trifft man sich hier, so werde hier die Kontakte geknüpft", sagte Rafa lärmig und launig. "So ist das richtig."
Als Rafa wieder vor der Theke stand, sagte Cyris zu Cagnar, sie würde lieber mit Xenon und Luna fahren. Cagnar wollte in seinem Auto einige Stunden ausnüchtern und dann nach Hause fahren.
Rafa ging mit seinem CD-Koffer und Darienne nach draußen. Er drehte sich um und winkte und lächelte allen Leuten zu, die noch neben der Tanzfläche standen, unter ihnen Cyris, Cagnar, Xenon, Luna und ich.
"Tschüß, tschüß", sagte er.
Ich denke, er hätte sich lieber die Zunge abgebissen, als nur einen einzigen Blick auf mich zuzugeben.
Wave schickte eine SMS:

Wurde aus dem W.E-Forum gesperrt. Lustig, oder?

Ich antwortete:

Rafa hat eine Schraube locker, das weißt du doch.

Wave schrieb:

Hat aber Dolf angewiesen.

Ich schrieb:

Dolf ist ein Befehlsempfänger von Rafa. Will Rafa immer noch die Fahnen von dir?

Wave berichtete:

Ja. Sitzen schon so gut wie im Auto. Mein Kumpel muß nur noch eine Konferenz führen, und dann gehts los nach K.

Ich erkundigte mich:

Wenn du Rafa die Fahnen gibst, was sagst du zu ihm bzgl. Forumrauswurf?

Wave antwortete:

Nichts, ich warte auf meinen Anschiss. Das Forum ist mir sowieso egal ... Wir haben doch unser eigenes, und das ist eh toller, weil es da keinen Streit gibt.

Ich bat Wave:

Wenn Rafa dir eine Moralpredigt hält, kannst du ihn daran erinnern, daß er selbst keinerlei Moral hat, d.h. betrügt, manipuliert etc.

Spätabends um viertel nach elf rief Wave mich an.
"Ich wollte so gern deine Stimme hören", sagte er.
Ich erkundigte mich, wie die Begegnung mit Rafa verlaufen sei. Wave berichtete, das Konzert finde erst morgen statt.
"Eigentlich müßte Rafa von dir eine Predigt kriegen", meinte ich.
"Ach, das ist mir doch alles egal", entgegnete Wave. "Jedenfalls, ich hab' dich als Freundin echt liebgewonnen. Ich hoffe, daß das gegenseitig ist."
"Ja, durchaus."
Gegen halb drei Uhr nachts kam ich ins "Roundhouse". Joujou erkundigte sich, wie es in der "Spieluhr" gewesen sei. Darienne hat sich immer noch nicht wieder bei Joujou gemeldet.
"Darienne hätte sich vielleicht gefreut, wenn du in der "Spieluhr" gewesen wärst", meinte ich, "aber sie hat sich ja nicht darum bemüht. Sie wirkte überhaupt recht passiv auf mich. Ich hatte den Eindruck, sie überläßt sich der Situation, anstatt sie mitzugestalten."
Marvel spielte unter anderem "Der zweite Tod" von FabrikC und einen Mix aus zwei Stücken, "Nataraja" von MS Gentur und "One night in New York City" von The Horrorist.
Tags darauf fand die erste Foto-Session für die Foto-Lovestory "Heiligabend" statt, in der Männer-WG in BI., wo Marvel bis vor Kurzem gewohnt hat. Die ganze WG zieht aus. Marvel ist mit Joujou und Jeanne nach GT. gezogen. Das Wohnzimmer in der WG war schon fast leer, nur das Sofa stand noch da - es soll auf den Sperrmüll, diente vorher aber noch als Kulisse für die Session. Auch in einem der oberen, schon völlig leergeräumten Zimmer wurden Bilder gemacht. Unsere Darsteller waren Joujou als enttäuschte Geliebte, Marvel als Frauenheld und ein Mädchen namens Yara als betrogene "Püppi". Yara gehört zu dem Bekanntenkreis von Marvel und Joujou und ist häufig im "Roundhouse". Die Session war eine Gaudi für uns alle. Nach getaner Arbeit machte ich Gruppenfotos von Yara, Joujou, Jeanne und Marvel auf dem Sofa.
Am 11.07. hat die Katze meiner Kollegin Marielle in HE. Junge bekommen. Marielle hatte ihre erst neun Monate alte Katze von der Straße aufgelesen und wollte sie kastrieren lassen, da war das Tier bereits trächtig. Nun gibt es drei schwarzweiße Fellknäuel, "Schwarzweißfilme", wie Marielles Sohn sie nennt. Constri und ich waren inzwischen da und hatten die Winzlinge auf dem Schoß. Zwei von ihnen kommen zu mir. Im September hole ich sie ab.
Constri und ich fuhren nach unserem Besuch bei Marielle weiter nach Mb. zu dem ehemaligen Frauenkloster. Constri machte Probeaufnahmen und begann, ein Konzept für ein Video zu entwickeln, das hier entstehen soll.
Tyra berichtete am Telefon, ihr sei das Geld ausgegangen, und sie habe tagelang gehungert, anstatt andere Menschen um Hilfe zu bitten. Nicht einmal ihre Familienangehörigen bat sie um Lebensmittel. Ihre Fähigkeit zur Selbstsorge scheint sehr beeinträchtigt zu sein. Inzwischen hat Tyra an einer Grillparty teilgenommen und die Fastenzeit beendet.
Tyra sucht nach beruflicher Orientierung. Sie fühlt sich durcheinander, ohne Struktur.
"Rafa hat dir damals eine äußere Struktur gegeben", meinte ich. "Er hat dich bei sich im Keller sitzen lassen. Er hat dir gesagt, wo du hingehörst. Aber es war der falsche Ort. Er hat dir einen Weg gezeigt, den du gehen solltest, aber es war die falsche Richtung."
Ich erzählte von den Ereignissen in der "Spieluhr" am letzten Donnerstag. Tyra erzählte, daß sie den verwegenen Cagnar auch kennt und ihn auch nett findet. Sie freue sich, daß er sein Examen als Altenpfleger bestanden hat. Als ich von Xenon und seinem Streit mit Wave erzählte, erinnerte sich Tyra:
"Wave hat doch neulich auf einer dreihundert Meter hohen Brücke gestanden."
"Ach ja, natürlich! Der wollte von einer Brücke springen. Einfach schrecklich."
"Als er mir das erzählt hat, habe ich gedacht:
'Jetzt habe ich so viel Streß, wie soll ich da noch Wave vom Selbstmord abhalten?'
Aber dann habe ich mir gesagt:
'Wer davon redet, tut es nicht.'
Wahrscheinlich ist er nur auf die Brücke gegangen, um davon zu erzählen."
"Ja, er hat mehreren Leuten davon erzählt", wußte ich. "Und er hat geankert. Er hat gesagt, vor seinem Geburtstag tut er es nicht, weil er den unbedingt feiern will. Bis zum Dezember will er sich also nicht umbringen. Wave hat gemeint, es sei einfach ein tolles Gefühl gewesen, da oben auf der Brücke zu stehen und die Möglichkeit zu haben, jederzeit springen zu können. Irgendwie ist es seltsam, daß ausgerechnet unter den Fans von Rafa mehrere Leute sind, die doch ziemliche Depressionen haben. Ich denke hier an die Selbstmordphantasien von W.O.L.F., und auch Tron hat schon über Selbstmord nachgedacht."
"Ich denke, wer es wirklich machen will, der redet nicht darüber, der macht es einfach."
Das konnte ich anhand der Selbstmorde von Malda und dem jüngsten Sohn einer befreundeten Familie bestätigen. Ich schilderte, wie und wo sie in den Tod gesprungen sind und wie sie ihre Absichten vertuscht haben.
"Und du hast auch nicht darüber geredet", setzte ich hinzu.
"Ich habe auch nie, nie an Selbstmord gedacht, bis zu dem Tag, als ich das mit dem Paracetamol versucht habe", beteuerte Tyra.
"Was auch fast geklappt hätte", ergänzte ich, "wenn du nicht durch Zufall alles ausgebrochen hättest."
"Ich hatte vorher nie Selbstmordphantasien. Das kam ganz plötzlich, ohne Vorwarnung."
"Wie eine Explosion."
"Ich habe immer alles ertragen, und auf einmal konnte ich überhaupt nichts mehr ertragen."
"Das war ein Tropfen, der das Faß zum Überlaufen brachte."
"Ich habe nur gedacht - Schluß jetzt."
Tyra möchte sich vor Rafa schützen, der sie dahin gebracht hat, daß sie nicht mehr weiterwußte. Sie möchte auf keinen Fall die Beziehung mit ihm weiterführen. Rafa ruft Tyra alle zwei Tage an und äußert Hoffnungen auf neue Schäferstündchen.
"Damit ich nicht mehr schwach werde, habe ich mich selbst überlistet", erzählte Tyra. "Ich habe nämlich vor zwei Monaten ganz still und heimlich die Pille abgesetzt. Jetzt darf ich nicht mehr, auch wenn Rafa mich 'rumkriegen würde. Denn er haßt Kondome."
Vorletzte Woche war Tyra bei Rafa, und vor einigen Tagen war Rafa bei Tyra. Er warf sich freizügig auf ihr Bett und begann, ihr die Kleider vom Leib zu reißen.
"Wie geht es übrigens deiner Freundin?" fragte Tyra beiläufig.
"Wieso fragst du das jetzt?" kam es von Rafa.
"Weil ich finde, es ist ein angemessener Zeitpunkt, darüber zu reden", gab Tyra zurück.
"Ich finde, es ist kein angemessener Zeitpunkt", entgegnete Rafa unmutig.
"Warum willst du überhaupt mit mir schlafen, obwohl du eine Freundin hast?" erkundigte sich Tyra.
Rafa wich aus:
"Die Geschichte mit uns hört wohl nie auf, was?"
"Nein, die hört erst auf, wenn du mich mal endlich in Ruhe läßt."
"Du magst mich wohl nicht mehr?"
"Doch, ich mag dich viel zu gerne, als daß ich mich bereitwillig für dich hinlegen würde."
Rafa grummelte vor sich hin und sagte dann:
"Los, leg' die DVD ein."
Rafa hatte vom Thema abgelenkt, und die Zusammenkunft plätscherte mit gemeinsamem DVD-Gucken dahin.
Im Nachhinein bemerkte Tyra zu dieser Auseinandersetzung:
"Eigentlich hätte ich zu ihm sagen müssen:
'Ja, Rafa, wir müssen darüber reden, und wir werden jetzt darüber reden.'
Dann wäre er sehr aggressiv geworden. Aber ich glaube, das braucht er. Solche Erfahrungen muß er immer wieder machen."
"So ist es", bestätigte ich. "Es war schon sehr gut, daß du genau im richtigen Moment Rafas Freundin thematisiert hast. Du hast dich nicht auf sein Harem-Spielchen eingelassen. Du hast ihn genau am entscheidenden Punkt getroffen."
Tyra meinte, es sei ihr furchtbar schwergefallen, Rafas Ansinnen zurückzuweisen. Sie sei sicher, sie wäre schwach geworden, wenn sie nicht die Pille abgesetzt hätte. Und sie freue sich, daß es ihr gelungen sei, Rafas Verführungsversuchen zu widerstehen.
"Sonst hättest du nachher nur wieder gelitten", meinte ich. "Denn er wäre danach wieder mit Darienne ins Bett gegangen - eiskalt."
"Natürlich."
"Und er hätte bestimmt nicht zu dir gesagt:
'Tyra, ich liebe dich, ich will dich heiraten.'"
"Ich will Rafa gar nicht heiraten", betonte Tyra. "Auf eine Art würde es wohl passen, aber sein Lebensstil ist mit meinem Lebensstil nicht vereinbar. Meine Familie ist mir sehr wichtig. Rafa hat sich aber nie für meine Familie interessiert. Ich hätte mich in seine Familie einfügen können, aber er würde sich nie in meine Familie einfügen können. Und wer mich heiratet, heiratet meine Familie mit mir."
In der Nacht zum Samstag rief Henk an - offenbar betrunken - und klagte, es gehe ihm gar nicht gut. Ich wollte ihm Ratschläge geben - zum Psychiater zu gehen, ein Antidepressivum zu nehmen, mit dem Trinken aufzuhören -, doch nichts von alledem war ihm recht. In mir habe er bereits einen Psychiater im Freundeskreis, also wünsche er nicht, daß ich ihn zu einem Fremden abschiebe. Tabletten könnten seine Probleme gewiß nicht lösen. Und Alkohol trinke er nie, wenn er arbeiten müsse, also könne ich nichts dagegen einwenden.
Weil er meine Ratschläge nicht hören wollte, ging er dazu über, mir seine Wertschätzung zu versichern:
"Ich habe dich echt lieb. Du bist so eine Liebe, so eine Süße. Dich habe ich immer in meinem Herzen. Auf dich kann ich mich immer verlassen."
Henk meinte, daß ich Rafa liebe, sei ein Zeichen von Geisteskrankheit.
"Du bist selber nicht ganz heile", sagte er, "aber deshalb habe ich Vertrauen zu dir. Wenn da irgendsoein Psychiater kommt, der so ganz heile ist, zu dem hätte ich kein Vertrauen."
Er erzählte, daß er sich freut, wenn meine Schwester, Denise und meine Mutter zu ihm in den Frisiersalon kommen. Er möge sie alle drei gern. Meiner Mutter habe er vor einiger Zeit eine Predigt gehalten, weil sie mich vor zwanzig Jahren aus dem Haus warf.
"Als Hetty damals zu mir gekommen ist", habe er ihr vorgehalten, "ohne Wohnung, ohne Zuhause ... Mensch, eine Tochter hat man sein ganzes Leben lang."
Meine Mutter habe entgegnet, heute tue ihr leid, was sie damals getan habe. Sie habe einen Fehler gemacht.
Henk meinte, inzwischen habe meine Mutter eine rechte Last mit dem Mann, um dessentwillen sie mich damals hinausgeworfen hat. Sie könne Wilf nicht mehr mit in den Frisiersalon nehmen, weil er verwirrt sei und es zu Fehlhandlungen komme.
Henk wollte mich am liebsten mitnehmen auf eine Wochenendfahrt nach Rügen. Ich erklärte ihm, daß ich nur den Samstag und den Sonntag für eine solche Reise nutzen könne und daß sie dafür zu weit sei. Henk plante nämlich keinen luxuriösen Hotel-Kurztrip mit direkter Anfahrt und Doppelzimmer, sondern er wollte erst nach B. und dort eine Freundin treffen, die ihren Kleinbus gerade reparieren ließ, und mit dem Kleinbus und vielleicht noch zwei weiteren Leuten sollte es nach Rügen gehen. Dort wollte man kurzfristig eine Übernachtungsgelegenheit finden. Ich ahnte schon, wie so eine Reise aussehen würde: man blieb entweder in B. hängen, weil der Kleinbus nicht fuhr, oder man blieb unterwegs liegen, weil der Kleinbus nicht weit genug fuhr, und wenn man spätabends doch noch in Rügen ankam, wurde im Kleinbus geschlafen, ohne Bad und Komfort. Und dann konnte man schon früh am Sonntag wieder aufbrechen, um rechtzeitig zurück zu sein. In jedem Falle war diese Reise mit hoher Wahrscheinlichkeit mit einem erheblichen Drogen- und Alkoholkonsum verbunden. Ich konnte dann als einzige Nüchterne sehen, wie ich mich inmitten unzurechnungsfähiger Wildcamper noch amüsierte.
"Das lassen wir mal lieber", sagte ich zu Henk.
Wir verabredeten ein abendliches Treffen zu zweit, wie wir es sonst auch tun.
"Wenn es dann nicht mehr so heiß ist, mache ich dir Hühnersuppe", kündigte Henk an.
Als ich am nächsten Morgen bei meiner Mutter zum Frühstück war, erzählte sie, sie möge Henk auch gut leiden. Er sei nett und fürsorglich, aufrichtig und wahrhaftig.
"Das stimmt alles", bestätigte ich. "Und er hat eine echte Wertschätzung für mich. Seine Entwicklung besteht darin, daß er inzwischen auch in der Lage ist, mir seine Wertschätzung mitzuteilen. Früher war er viel verschlossener. Ich freue mich, daß ich mich in Henk nicht getäuscht habe. Ich habe von Anfang an gefühlt, daß er ein wichtiger Mensch in meinem Leben ist. Er hat aber auch Schwächen. Er ist ziemlich unzuverlässig."
Hierzu konnte meine Mutter erzählen, daß Henk ihr neulich im Frisiersalon berichtete, ich hätte ihn "auf den Pott gesetzt". Der Grund für meine Predigt war gewesen, daß Henk an seinem Geburtstag seine Verabredung mit mir nicht eingehalten hatte und ich vor verschlossener Tür stand.
Ende Juli waren Constri und ich bei Ted zu Besuch. Auch Blanca trafen wir dort. Als wir gemütlich beim (verspäteten) Frühstück saßen, fiel mein Blick auf den bunten Sonnenschirm, der auf Teds Balkon stand. Der Sonnenschirm stieg gemächlich in seiner Halterung empor und schwebte davon, mit Kurs aufs Nachbargrundstück. Wir stürzten alle auf den Balkon hinaus und schauten dem Schirm hinterher. Er hatte Aufwind und hielt sich gut in der Luft. Ted holte den Schirm später beim Nachbarn ab.
Am Nachmittag machten wir Fotos von dem, was noch übriggeblieben war von der Stahlhütte in Ht., vor allem machten wir Aufnahmen von dem asbestverseuchten Kesselhaus. Es soll bald abgerissen werden.
Am Telefon erzählte ich Tyra von dem Sonnenschirm auf Teds Balkon, der nur lose in seiner Halterung steckte. Tyra kicherte:
"Sprich nicht weiter, ich kann mir schon denken ..."
Tyra erzählte, daß ihre Bekannten und Verwandten nur gelacht hatten, als sie von ihren Alpträumen erzählte.
"Constri und ich finden das überhaupt nicht zum Lachen", erwiderte ich. "Wir nehmen das sehr ernst, und wir denken, daß die Träume eine reale Bedrohung abbilden, etwas, das dich aktuell bedrängt."
Tyra ergänzte die Schilderung ihrer Alpträume. Die eklige Masse in ihrem Mund könne sie nicht ziehen, sondern nur zerreißen, so zäh sei sie. Von dem Geschmack werde ihr so übel, daß sie sich übergeben müsse, und mit zugestopftem Mund sei das nicht so einfach. Wenn sie endlich wach werde, laufe sie oft gleich zur Toilette.
"Constri kam darauf, daß die Träume wahrscheinlich etwas mit Rafa zu tun haben", fuhr ich fort. "Er läßt dich nicht in Ruhe, er bedrängt dich immer wieder. Bei jedem Treffen will er mit dir ins Bett, egal wie oft du sagst, daß du das nicht willst."
"Oh, mir wird schon wieder ganz schlecht."
"Rafa nimmt überhaupt keine Rücksicht auf dich und deine Bedürfnisse", meinte ich. "Er sieht dich nicht als Mensch, sondern als Sklavin, als sein Eigentum, und es paßt ihm nicht, daß du ihm dieses Eigentum streitig machen willst. Wenn du für Rafa die Einzige wärst und wenn du wirklich noch etwas von ihm wollen würdest, wäre ja nichts dagegen einzuwenden. Aber er will dich nur benutzen, um seine Freundin zu betrügen. Und daß du dich von ihm abwendest und dich mit seiner Ex-Freundin verstehst, paßt ihm ganz und gar nicht."
Tyra erzählte, daß sie Rafa schon kurz nach Pfingsten das Foto gemailt hat, das Tyra, Berenice und mich im "Blendwerk" zeigt. Sie wollte eigentlich etwas dazu schreiben, ließ es dann aber ohne Begleittext. Bis heute hat Rafa sich ihr gegenüber nicht zu dem Foto geäußert.
"Rafa ist ein schlechter Verlierer", meinte ich. "Er kann mit Niederlagen nicht umgehen. Und daß wir drei uns auf dem Foto sichtlich ohne ihn amüsieren, ist eine Niederlage für ihn. Rafa ist sehr aggressiv und versucht immer wieder, Leute mundtot zu machen. Dieses Verhalten könnte die eklige Masse symbolisieren. Rafa hat dir zum Beispiel damals verboten, anderen Leuten von eurem Verhältnis zu erzählen."
"Aber das ist doch Jahre her."
"Das schon. Aber er versucht noch immer, Leute mundtot zu machen. Ein Beispiel ist seine Hetzkampagne gegen mich im letzten Winter. Und er löscht nach wie vor willkürlich Beiträge in seinem Forum, so daß ihm schon seine Fans abwandern. Und er zeigt Drohgebärden und verwendet Gossen-Ausdrücke. Der will immer noch Leuten das Maul stopfen. Constri fiel dazu etwas ein. Sie stellte sich eine Szene vor, in der eine Frau sich von ihrem Mann abwenden will, und er stopft ihr mit seiner Zunge das Maul. Rafa greift dich immer da an, wo du am angreifbarsten bist. Du willst allen etwas Gutes tun und für alle da sein. Rafa klagt und jammert und will, daß du dich um ihn kümmerst. Und dann will er mit dir ins Bett. Und das paßt nicht zusammen. Schlechtgehen und Sex passen nicht zusammen. Entweder trifft er sich mit dir auf freundschaftlicher Ebene, und dann bleibt es auch auf freundschaftlicher Ebene, oder er trennt sich von Darienne und bekennt sich zu dir. Etwas anderes würde ich an deiner Stelle nicht zulassen."
"Aber ich werde dann doch wieder schwach."
"Du mußt lernen, Rafa in die Schranken zu weisen", mahnte ich. "Das ist deine einzige Chance. Du kannst dich mit ihm treffen, aber unter der Bedingung, daß die Treffen auf einer freundschafltichen Ebene bleiben, und bei seiner ersten Andeutung, daß er mit dir ins Bett will, fliegt er achtkantig 'raus."
"Ach, das kann ich doch dann wieder nicht."
"Das kannst du üben. Wenn Rafa zum Beispiel jammert und behauptet, er sei eben so, er müsse immer mit allen Frauen ins Bett gehen, kannst du sagen:
'Du bist ein erwachsener Mensch, du kannst dich beherrschen. Und wenn dir etwas daran liegt, mich zu treffen, reißt du dich zusammen.'
Du mußt lernen, hart zu sein, zu ihm und zu dir. Nur so kannst du mit ihm fertig werden. Und ich denke, wenn du dich mal so richtig gegen ihn gewehrt hast, hören auch deine Alpträume auf."
Ich erzählte, daß Constri sich immer noch für Dereks Wohlergehen verantwortlich fühlt, trotz ihres Wissens, daß er es war, der seine eigene Familie zerstört hat. Tyra erkundigte sich, wie Constri mit der Situation umgeht.
"Sie bremst sich", erklärte ich. "Ihr ist bewußt, daß Derek an allem selbst schuld ist, was ihm jetzt widerfährt, und sie hält sich heraus."
Derek ist nach wie vor sehr launisch und mag keine Verantwortung übernehmen. Denise wollte Derek neulich besuchen, er wollte sie aber nicht sehen.
"Bis nach meinem Urlaub", sagte er zu Constri.
Derek hatte vor, mit seiner Freundin zwei Wochen in Griechenland zu bleiben. Er kehrte jedoch schon nach wenigen Tagen zurück und wollte gleich Denise sehen. Er holte Denise vom Kindergarten ab, und sie verbrachte den Spätnachmittag bei ihm. Zu Constri sagte Derek, daß er für Denise in seiner Wohnung ein Hochbett aufstellen möchte.
Als ich Clarice erzählte, wie feindselig Rafa sich verhält - gegenüber der gesamten Menschheit -, meinte Clarice, Rafa sei wahrscheinlich mit seiner Situation sehr unzufrieden.
"Er wird immer älter", sagte sie, "und was hat er erreicht?"
Clarice hat neulich wieder etwas von Daphne gehört. Daphne hat Rafa vor mehr als zehn Jahren sehr verehrt. Inzwischen ist Daphne verheiratet und hat ein Kind.
Anfang August feierte Dina-Laura ihren dreißigsten Geburtstag. Nach ihrer Trennung von Arian kurz vor Pfingsten hat sie nun einen neuen Lebensgefährten, Cecil. Die beiden sind noch nicht zusammengezogen, weil sie erst seit wenigen Wochen zusammen sind. Sie haben sich im "Restricted Area" in BS. kennengelernt.
Dina-Laura mußte eine Schürze über ihr schwarzes Cocktailkleidchen ziehen und sechs Klinken putzen, die an einem Türblatt festgeschraubt und mit Motoröl eingerieben waren.
Wenige Tage später feierte Highscore seinen vierzigsten Geburtstag. Er lud ein in den "Keller". Auf dem Weg dorthin kam ich an einem Kalibergwerk vorbei. Die weithin sichtbare Abraumhalde wird von den Bewohnern der umliegenden Dörfer "Kalimandscharo" genannt. Wenn es schlechtes Wetter gibt, färbt sie sich dunkel. Heute schien die Sonne, und die Halde leuchtete weiß.
Im "Keller" war ein üppiges Buffet aufgebaut. Highscore freute sich über die vielen Gäste. Rafa war nicht da, und das hatte ich mir schon gedacht. Highscore kann ihn nicht besonders leiden.
Tyra stand an der Theke und erzählte, daß sie Rafa verboten hat, Annäherungsversuche zu machen. Er habe sich darauf zurückgezogen, "nur kuscheln" zu wollen:
"Kuscheln wird doch wohl noch erlaubt sein."
Umarmen "wie unter Freunden", das lasse sie zu. Allerdings ist "Freund" für Rafa ein dehnbarer Begriff.
Tyra erzählte, daß Rafa einen Comic-Band veröffentlichen will. Die einzelnen Comics bestehen aus wenigen Bildern und handeln von einem C64-begeisterten Schuljungen, der sogar beim Sex an nichts anderes denkt als an den C64. Wie diese Comicfigur sieht Rafa sich wahrscheinlich auch heute noch, mit Mitte dreißig. Rafas Comics sind bisher nur einzeln in einem Computermagazin und auf einer wenig bekannten Website erschienen.
Ein "Keller"-Gast im gelben Piqué-Hemd fragte Wirtin Bibian, ob sie ein Grufti sei. Bibian trug ein langes schwarzes Samtkleid mit einem Kreuz auf der dunkelroten Passe. Sie fand die Frage albern und stellte sie zur Diskussion. Ich unterhielt mich mit dem Gast im gelben Piqué-Hemd und erklärte ihm, daß es sich eigentlich bei den Leuten in der Szene nicht um "Gruftis" oder "Gothics" handelt, sondern um einen Haufen Individualisten.
Die Partygesellschaft strebte hinaus in den Hof, wo ein Esel hereingeführt wurde. Das war der Partygag für Highscore zum Vierzigsten. Besonders Highscores Neffen waren von dem Esel begeistert. Highscore stieg auf den Esel und setzte sich den Strohhut auf, den vorher der Esel getragen hatte. Dann mußte er durch die Altstadt reiten, umringt vom Partyvolk. Auf dem Marktplatz mußte er sich umdrehen und rückwärts weiterreiten.
Maylin erzählte, daß sie im nächsten Frühjahr ihren Lebensgefährten Kiran heiraten will, mit dem sie ihre Tochter Meryl hat. Zu diesem Anlaß soll es im "Keller" wieder eine Tanzveranstaltung geben. Sie sei sehr glücklich in ihrer Beziehung. Ihre erste Ehe sei sehr unglücklich gewesen. Weil sie bei ihrer Hochzeit unter dreißig gewesen sei, habe sie keine Klinken putzen müssen. Aber mit fünfundzwanzig habe sie eine "Schachtel-Party" feiern müssen, weil Frauen nach althergebrachter Tradition mit fünfundzwanzig Jahren als "alte Schachteln" bezeichnet werden. Sie sei nach Hause gekommen und habe ihr Zimmer mit lauter Pappschachteln liebevoll dekoriert vorgefunden.
Wieder im Hof vorm "Keller" angekommen, wurde Highscore mit Geschenken überhäuft, darunter eine aufblasbare Kuh namens "Wilde Hilde". Auf der Packung stand, sie habe viele Vorteile als Bettgespielin - sie habe nie Kopfweh, werde nie schwanger ...
Der Eselsführer erzählte, daß sein Esel schon viele Vierzigjährige durch die Dörfer und Städte der Region getragen habe, und der Esel sei darauf gut eingestellt. Er scheue nicht bei Blasmusik und auch nicht bei gröhlenden Betrunkenen. Wenn er jedoch an einer Weide vorbeikomme und Stuten sehe, lenke ihn das sehr ab.
Tyra, Minette und ich unterhielten uns über Rafa. Tyra erzählte, Rafa sei in den letzten Jahren seiner Beziehung mit Berenice kaum noch gemeinsam mit ihr ausgegangen. Er habe sie abschirmen wollen, damit sie nicht von Rafas Untreue erfuhr und damit sie nicht mit anderen Leuten über die Mißhandlungen sprach, die Rafa ihr antat.
Im "Keller" wurde Cappuccino-Torte aufs Buffet gestellt. Ceno und ich hielten Kaffeeklatsch. Ceno erzählte, daß er schon wieder keine Arbeit hat. Seinen letzten Job als Fernfahrer hat er verloren, weil er nicht pünktlich war.
Cenos Haus gehört der Bank. Wenn die Bank einen Käufer gefunden hat, muß Ceno ausziehen.
Tyra erzählte von dem W.E-Video, das Rafa aus Konzertmitschnitten und einem aktuellen Interview zusammengesetzt hat. Rafa sieht man in dem Interview nur im Gegenlicht, so daß sein Gesicht nicht zu erkennen ist.
Die Frauen in der Band, also Darienne und jetzt auch wieder Lucy, sagen in dem Interview kein Sterbenswörtchen, dabei soll Rafa vorgehabt haben, sie auch etwas sagen zu lassen. Und in dem Video, das als Rückblende auf die Bandgeschichte gedacht ist, kommt Tyra, die immerhin fast ein Jahr lang Teil der Band war, nur für wenige Sekunden vor; man sieht sie, wie sie Luftballons mit W.E-Logo ins Publikum wirft.
"Und dann kam Tyra", soll Rafas einziger Kommentar zu ihr lauten.
Als Rafa Tyra fragte, wie ihr das Video gefalle, antwortete sie nüchtern:
"Also, Rafa, ein Highlight ist das nicht gerade."
Er verteidigte sein Werk:
"Das ist doch voll geil."
Tyra mußte bei mehreren Besuchen in Rafas Wohn-Keller das Video ansehen, und zwar immer dann, wenn Rafa noch mehr Leute zu Besuch hatte und dieser Besuch das Video noch nicht kannte.
Darienne ist nur noch an den Wochenenden bei Rafa. Innerhalb der Woche wird Tyra alle zwei Tage von Rafa angerufen und herbestellt.
"Das ist genau wie mit Berenice", erinnerte ich mich. "In der Woche hattest du bei Rafa Dienst, und am Wochenende mußtest du weg, und Berenice hatte Dienst."
"Ja, so war das. Das Wochenende war mein Wochenende."
Was für eine Ausbildung Darienne macht, weiß Tyra noch nicht. Jedenfalls vermuteten Tyra und ich, daß die Ausbildung der Grund ist, warum Darienne nur noch am Wochenende Zeit für Rafa hat.
Einmal, als Tyra bei Rafa zu Besuch war, wurde sie von ihm gebeten, "ein paar hübsche Freundinnen" herbeizutelefonieren. Tyra lehnte das ab:
"Nein, ich werde bestimmt keine neuen Mädchen anschleppen, denen du das Herz brechen kannst."
"Wie meinst'n das?" tat Rafa verständnislos.
"So, wie ich es sage", entgegnete Tyra.
Sten, der auch bei Rafa war, lachte wissend:
"Ha! Ha! Ha!"
Tyra schlug vor, mich anzurufen.
"Welche Hetty?" fragte Rafa.
"Elobe."
Rafa schaute zu Boden und sagte:
"Ach, nee, laß' mal stecken."
Als Tyra sich bei Rafa erkundigte, warum sich das Erscheinen seines nächsten Albums so sehr verzögert, behauptete er:
"Wenn man soviel mit dem Universum, Apfelmännchen und Fraktalen zu tun hat, kann man schon ins Irrenhaus kommen."
Als Rafa von Fraktalen sprach, hatte Tyra den Eindruck, daß er auf mich anspielte. Immerhin verwende ich "Fractal" als Nickname und bin dabei, Psychiater zu werden.
"Du bist immer noch wichtig für ihn", meinte Tyra.
Über den Rufnamen "Elobe" sagte sie:
"'Elobe' erinnert mich an eine Elfe."
Wir unterhielten uns über Rafas Hörspiele. Tyra und ich finden die Hörspiele kindisch und alles andere als lustig.
"Wenn jemand sich Tag und Nacht das Gehirn mit irgendwelchen Kinder-Hörspielen zustopft, kann ja kaum etwas anderes herauskommen", lästerte ich. "Und auf seiner Hörspiel-Homepage verteidigt Rafa seine Rechtschreibfehler. Als ich ihn im Gästebuch auf besonders peinliche Rechtschreibfehler aufmerksam gemacht habe, wurde er fuchsteufelswild. Erst nach mehreren Anläufen hat er wenigstens einen der Fehler korrigiert, den peinlichsten aber - 'galaktisch' mit 'g' - also 'galagtisch' - hat er stehenlassen. Und er hat mit haufenweise nicht druckbaren Wörtern reagiert."
Tyra betonte, wie sehr Rafa davon überzeugt ist, anderen viel beibringen zu können.
"Dank seiner Borniertheit ist seine Allgemeinbildung recht dürftig", meinte ich. "Wer sich einbildet, schon alles zu wissen, versucht nicht, etwas Neues zu lernen. Deshalb tritt er auf der Stelle."
Tyra erzählte, als sie Rafa vorhielt, was er ihr schon angetan hat, gab er zu bedenken:
"Du hast doch auch viel von mir gelernt in den schlechten Zeiten."
Er stellte es so dar, als seien die Zeiten durch das Schicksal schlecht gewesen, und er hätte keine Schuld daran. Ja, er zeigte sich stolz auf sein Werk:
"Immer wenn ich dich ansehe, kleine Frau, dann sehe ich, was ich dir alles beigebracht habe."
"Da würde ich kotzen", sagte ich.
"Ich habe auch fast gekotzt", sagte Tyra.
Sie meinte, wenn Rafa ihr überhaupt etwas beigebracht habe, dann ein devotes Verhalten ihm gegenüber und Arroganz anderen Menschen gegenüber. Rafa habe ihr eingeredet, sie solle davon ausgehen, daß alle anderen Menschen sowieso nur Idioten seien. Tyra hatte Arroganz und Überheblichkeit damals für ein Zeichen von Selbstbewußtsein gehalten.
"Entwertung und Selbstbewußtsein gehören nicht zusammen", betonte ich. "Rafa entwertet andere, weil er damit seine Unsicherheit überspielt. Das hat mit Selbstbewußtsein nichts zu tun."
Auch Darienne verhält sich Rafa gegenüber devot und anderen Menschen gegenüber arrogant. Sie scheint ihre Lektion gelernt zu haben.
Als Rafa Anfang 2003 begann, Tyra zu umwerben, sagte er zu ihr:
"Ich will dich nie weinen sehen. Solange ich lebe, soll aus deinen Augen keine Träne fließen."
Dies versprach er einem gutgläubigen Mädchen, das sich eine treue Beziehung wünschte und dem er seine langjährige Beziehung mit Berenice verheimlichte. Als Tyra endlich begriff, daß Rafa sie nur als Geliebte wollte und gar nicht daran dachte, sich ihretwegen von Berenice zu trennen, schaute er bereits hämisch auf sie herab und beleidigte und beschimpfte sie gewohnheitsmäßig. Wenn sie in Tränen ausbrach, höhnte er:
"Was ist, kleine Frau? Weinst du schon wieder?"
"Das ist ja ekelhaft", erschauerte ich.
"Warum tut er das?" zerbrach Tyra sich den Kopf. "Das frage ich mich schon die ganzen Jahre und finde keine Antwort darauf. Behandelt er mich so, weil ich ein ganz besonders dummes Geschöpf bin?"
"An dir liegt es überhaupt nicht", entgegnete ich. "Du hast keinerlei Schuld an seinem Verhalten."
"Aber warum tut er mir das an?"
"Es liegt an ihm selbst, und Schuld hat nur er selbst. Er sucht sich ausschließlich Freundinnen, die er nicht liebt. Nur dann kann er sicher sein, daß sie ihn nicht enttäuschen, denn an ihnen verliert er nichts."
"Stimmt, sowas hat er mal gesagt", erinnerte sich Tyra. "Er hat gesagt, er bindet sich nie, damit er nie der Verlassene ist."
"Nur übersieht er dabei, daß emotionale Bindungen das Einzige sind, was unserem Leben Sinn und Inhalt gibt", meinte ich. "Ohne Bindungen vereinsamt man, und man fühlt sich innerlich leer. Rafa macht aber nur die Außenwelt für seine innere Leere verantwortlich. Daß er selbst daran schuld ist, kann er sich nicht vorstellen. Er lehnt Gefühle ab und Bindungen, die mit Gefühlen zu tun haben. Und für dich hat er Gefühle, du vermittelst ihm eine Form der Geborgenheit. Also kommst du für ihn als Freundin auf keinen Fall in Frage. Darienne hingegen ist ideal, für die empfindet er nichts. Und mit ihr kann er machen, was er will. Er hat eine kleine, schwache Frau, die er mißhandeln und betrügen kann, ohne daß sie sich von ihm trennt."
"Der ist völlig verkorkst", seufzte Tyra.
"Ja, der ist verkorkst", bestätige ich. "Und er wird wohl sterben, ehe sich in ihm irgendetwas verändert."
"Da werden wohl nicht viele zur Beerdigung kommen", vermutete Tyra.
"Seine Ex-Freundinnen wohl überwiegend nicht", meinte ich. "Die haben sich frustriert von ihm abgewendet. Aber seine Fans, die würden wohl kommen und Fahnen schwenken."
Tyra erzählte, Nadine habe schon noch Interesse an Rafa. Nadine sei die beste Freundin von Charlize, und von Charlize habe sie es gehört. Immer wenn Charlize Nadine erzähle, daß Rafa sich mit Tyra trifft, sei Nadine eifersüchtig. Dabei habe Nadine einen festen Freund und mit diesem ein Kind.
Wir überlegten, welche Freunde Rafa überhaupt hat und ob diese zu seiner Beerdigung kommen würden.
"Mit Dolf hat Rafa privat nichts mehr zu tun", erzählte Tyra. "Die treffen sich nur zu den Konzerten. Ivco, ja, der würde zu Rafas Beerdigung kommen ... und Anwar ..."
"Und dann nicht viel mehr, abgesehen von den Fans. Die Mutter und der Bruder würden schon hingehen. Und Darienne, als Witwe."
"Wenn er sie bis dahin geheiratet hat. Aber ich glaube nicht, daß er die heiratet."
Rafa hat vor Tyra nie gesagt, daß er Darienne liebt. Als Tyra ihn gezielt fragte, ob er Darienne liebt, drückte er sich um eine Antwort herum, in Form mißlauniger Sprüche wie:
"Ach, halt' doch die Klappe."
Als Rafa mit Darienne zusammengekommen war, fragte Tyra ihn:
"Warum Darienne? Was hat sie, das ich nicht habe?"
"Darienne beflügelt mich", behauptete Rafa.
Tyra nimmt an, daß Rafa Dariennes Verehrung mit Liebe verwechselt. Das "Beflügeln" ist wahrscheinlich nicht mehr als ein rauschhaftes Hochgefühl.
"Mein Psychotherapie-Lehrer hat mal über narzißtisch gestörte Menschen gesagt, daß sie die Bewunderung durch Fans mit echter Zuwendung verwechseln, weil sie echte Zuwendung nicht kennen", fiel mir ein. "Rafa hat echte Liebe anscheinend in der Kindheit nicht kennengelernt, und er weiß deshalb auch nicht, was Liebe ist. Er kann damit nichts anfangen, er kann sie nicht einordnen, er kann nicht damit umgehen."
Sowohl Tyra als auch mir hat Rafa von dem "Pakt" mit seinen Gefühlen erzählt, und weder ihr noch mir wollte er den Inhalt verraten.
"Wahrscheinlich hat der Pakt zum Inhalt, daß Gefühle nie die Oberhand gewinnen dürfen", vermutete ich. "Immer wenn in Rafa Gefühle hochkommen, werden sie zurückgedrängt und zerschlagen."
Tyra hat Rafa auf den sexistischen Flyer angesprochen, den er für seinen nächsten Auftritt im "Mute" gestaltet hat. Tyra meinte, Frauen könne Rafa mit dem Flyer jedenfalls nicht anlocken.
"Frauen, die so denken wie Frauen, werden da auch nicht hingehen", behauptete Rafa. "Aber Frauen, die cool sind, schon."
Er meinte, wenn Tyra sich durch den Flyer angegriffen fühle, liege sie falsch.
Tyra seufzte, sie sei so froh, nicht mehr Teil von W.E zu sein. Die Auftritte hätten ihr keinen Spaß gemacht. Sie habe fast die ganze Zeit nur herumstehen dürfen, als Dekorationsgegenstand. Sie habe weder sich noch ihr Talent zeigen können.
Iro saß vorübergehend an unserem Tisch. Er war betrunken und in seinem Verhalten freundlich, doch er redete laut und viel und schien kaum etwas von dem mitzubekommen, was andere Menschen sagten. Iros Reden ähnelten philosophischen und moralischen Predigten. Mehr nebenbei erzählte er, daß er nach vier Jahren Haft wegen guter Führung entlassen worden war. Gesessen hatte er, weil er im betrunkenen Zustand den Liebhaber seiner Freundin erschlagen hatte. Dieses Kapitalverbrechen schien er durch moralisierende Reden übertünchen und entschärfen zu wollen. Er betonte, daß er so etwas nie wieder tun werde, auch wenn er das Trinken nicht aufgegeben habe. Er trinke ja "nur am Wochenende".
Mitte August war ich im "Nachtbarhaus". Toro legte auf, mit einem Kumpel. Unter anderem liefen "Hang him higher" von :wumpscut:, "Save me" von Suicide Commando und "Der schwarze Mann" von Terminal Choice, Letzteres aber leider nur zur Hälfte.
Sasa war im "Nachtbarhaus" und berichtete, daß sie eine Ausbildung zur Krankenschwester begonnen hat.
Im "Nachtbarhaus" wurden zwei Karten für die W.E-Release-Party Anfang September im "Mute" verlost. Eine von ihnen gewann ich.
"Das war doch klar, Betty", lachte Toro.
Am Eingang des "Nachtbarhaus" konnten wir, die Gewinnerinnen, uns für die Gästeliste im "Mute" eintragen lassen. Die Umstehenden kamen auf W.E zu sprechen.
"Rafa ist ein arrogantes, sexistisches, egoistisches, frauenfeindliches A...och", sagte ein Mädchen. "Das hat er -" sie zeigte auf einen gothisch-punkig gestylten Jungen, der in der Nähe stand - "mal zu Rafa gesagt."
"Und wie hat Rafa reagiert?" fragte ich.
"Er hat mir einen Button geschenkt", erzählte der Junge.
Tyra erzählte, sie habe in letzter Zeit keine Alpträume mehr gehabt. Ihr habe es gut getan, Rafa die Liebschaft aufzukündigen.
Als ich erzählte, daß Berenice immer wieder träumt, daß Rafa sie bittet, wieder mit ihm zusammenzusein, erzählte Tyra, wie ihre Träume von Rafa jetzt aussehen:
"Er fällt vor mir auf die Knie und heult und bettelt."
Im Traum antwortet Tyra dann, daß er sie sehr verletzt hat und daß sie nichts mehr mit ihm anfangen will, wenn er nichts an seinem Verhalten ändert, und daß er etwas daran ändert, glaubt sie nicht mehr.
Es gibt eine neue W.E-Homepage. Sie besteht aus einem Titelbild, das die Front eines historischen Radios zeigt, aber nicht mehr den Volksempfänger wie bisher, sondern ein Radio aus den fünfziger Jahren. Die Knöpfe sind die Links zu den einzelnen Rubriken. Je nachdem, auf welchen Knopf man geklickt hat, erscheint in der Mitte der Radiofront das Bandportrait, die Galerie, die Terminliste, die C64-Rubrik, die Linkliste oder das Gästebuch, immer nur eine winzig kleine Fläche mit winzigen Bildern und winzigem Text, mit Scrollbar an der Seite und unten, so daß man sich durch die winzige Welt mühsam hindurchscrollen kann. Im Gästebuch wird diese Homepagegestaltung überschwenglich gelobt, auch die Band und ihre Konzerte werden überschwenglich gelobt, und das ist nicht verwunderlich, denn neuerdings werden alle Gästebucheinträge vorab zensiert. Somit gibt es im Gästebuch nur noch lobende, bewundernde Einträge; jede Kritik wird von vonherein gelöscht.
Auf der Seite, die zum Chateingang führt, steht:

Wir legen grossen Wert auf korrekte Umgangsformen und ein integeres Verhalten.

Ich schrieb mit falschem Namen und falscher E-Mail-Adresse ins Gästebuch, unter Berücksichtigung der Tatsache, daß höchstens Webmaster Icon und Rafa diesen Eintrag lesen würden:

"Wir legen grossen Wert auf korrekte Umgangsformen und ein integeres Verhalten." Ach? Leuten die Rippen brechen ist integer? Kann zwar hier keiner lesen, muß aber auch nicht sein.

Im "Roundhouse" erzählte Joujou, daß Darienne sich schon monatelang nicht mehr bei ihr gemeldet hat und auch nicht mehr als Telefon geht, wenn sie anruft.
Neulich hat Joujou im "Zone" eine kostenlose Szene-Zeitschrift gefunden, wie sie auch hier im "Roundhouse" auslag und von mir mitgenommen wurde. In dieser Szene-Zeitschrift gibt es ein Interview mit Rafa zum Erscheinen des neuen W.E-Albums. Joujou fand die Bandfotos so künstlich und aufgesetzt, daß sie sich das Interview gar nicht erst durchlas.
Auf den Fotos tun Rafa, Dolf, Darienne und Lucy so, als würden sie in den fünfziger Jahren campen - allerdings in feiner Partygarderobe, was nicht so recht zu einem Campingurlaub passen will. Die Band posiert vor einem Wohnwagen und in einem Wohnwagen an einem Tisch mit historischer Tischdecke. Die Damen lächeln eingefroren, Rafa blättert konzentriert in einem vergilbten uralten Werbeprospekt. Die Herren tragen Sakko, die Damen rosa Abendkleider und weiße Abendhandschuhe, und alle tragen Sonnenbrillen. Das Arrangement erinnert mich an die Fotostrecke zu dem Stück "VW Käfer", wo die W.E-Bandmitglieder sich in Abendgarderobe zu viert in einen VW Käfer quetschen und so tun, als würden sie einen Ausflug machen.
Im Interview in der Szene-Zeitschrift gibt Rafa die gewohnten formelhaften Sätze von sich. Er redet von Weltverbesserung. Dem Leser, der Rafa nicht näher kennt, bleibt nichts anderes übrig, als auf die Fassade hereinzufallen.
Rafa betont in dem Interview seine moralische Haltung, die er im wirklichen Leben nicht besitzt. Die W.E-Fans erhebt er über den Rest der Menschheit, der von ihm als "Ballast" bezeichnet wird.
Am Sonntagnachmittag gab ich ein Damenkränzchen. Clarice erschien mit Traumfigur und erzählte, daß sie kein "Frustfressen" mehr braucht, seit sie mit ihrem jetzigen Freund Angus zusammen ist. Abgenommen hat sie wie von selbst. Helen brachte ihre Hochzeitsfotos mit. Ihr cremefarbenes Brautkleid erinnert an "Vom Winde verweht", und es steht ihr hervorragend. Das Oberteil ist mit feinen dunkelroten Längsstreifen verziert und hat Puffärmel, dazu gibt es einen Reifrock. Die blonden Haare waren zu einer Hochzeitsfrisur aufgesteckt. Ich finde es schade, daß manche Frauen sich nur an ihrem Hochzeitstag aufwendig schmücken und feminin kleiden und ansonsten schlichte Einheitsgarderobe tragen, die das Besondere an ihnen nicht zur Geltung bringt. Es ist gerade so, als würde man nur auf die Hochzeit hinleben und danach keinen Anlaß mehr sehen, sich herzuzeigen.
Odette berichtete am Telefon von der Geburt ihres Sohnes Darren. Kurz vor dem errechneten Termin versagte Odettes Insulinpumpe. Ihr Blutzucker war viel zu hoch. Weil sie sofort ins Krankenhaus fuhr, konnte das Kind durch einen Kaiserschnitt gerettet werden. Es war schwer überzuckert und mußte auf die Intensivstation. Nach wenigen Tagen ging es dem Kind wieder gut, und es liegt jetzt in Odettes Krankenzimmer.
Am Montagabend war ich bei Henk Er bewirtete mich mit Hühnersuppe. Das Huhn stammte aus der Tiefkühltruhe im Supermarkt.
"Das ist echt ein zähes Lederflugzeug", entschuldigte sich Henk.
Die Suppe mochte ich trotzdem.
"'Gummiadler' sagt meine Mutter zu sowas", erzählte ich.
Den Ausdruck kannte Henk auch.
Henks neunzehnjährige Katze Feline erfreut sich noch immer ihres Lebens, muß aber Tabletten gegen Arthrose einnehmen und bekommt Spezialfutter. Sie ist wie Bisat im Mai 1987 geboren.
Henk wollte mit mir tanzen, und wir tanzten zu "Maneater" von Nelly Furtado. Henk wollte danach nur laute Musik hören, ich hingegen wollte leise Musik hören. Weil Henk die Musik nicht leiser stellen wollte, nahm ich seinen weißen Plüschhund, der auf Zurufe quietschend bellt und sich bewegt. Ich schaltete den Plüschhund an und ließ ihn immer wieder bellen und sich bewegen. Henk war nun seinerseits genervt und stellte den Hund auf den Wohnzimmerschrank. Ich nahm mir eine rosa Plüschmaus mit Goldkettchen und Ohrring, die spricht, wenn man auf den Bauch drückt:
"Na, mein süßes Schätzchen? Stell dich doch nicht so an! Oh, für das Ding brauchst du ja einen Waffenschein!"
Henk brachte mir eine Plüschmaus mit Polizeiuniform, die konnte mit lallender Stimme sagen:
"Allgemeine Verkehrskontrolle! Sind Sie auch blau? Schön, dann müssen Sie jetzt blasen!"
Und er brachte mir eine schaumstoffgefüllte, mit Plastikfolie umhüllte Nachbildung eines "besten Stücks" mit einer Schnur zum Aufziehen. Wenn man es aufzog, vibrierte es für einige Sekunden, bis die Schnur wieder im Inneren verschwunden war.
Constri kam dazu, und Henk schnitt ihr die Haare. Belustigt erinnerte Constri sich, wie Henk ihr letztes Mal in seiner Wohnung betrunken die Haare geschnitten hat.
"Heute ist er nicht betrunken, sondern bekifft", raunte ich ihr zu. "Da wird das Resultat wohl besser werden."
Und wirklich war Constri rundherum zufrieden.
Am Mittwoch war ich nach der Arbeit bei Tyra. Eine Glastür in Tyras Fünfziger-Jahre-Wohnzimmerschank öffnete sich von selbst. Tyra erzählte, Rafa sei daran schuld. Er habe großspurig versichert, das Türschloß reparieren zu können, und das Ergebnis sei, daß das Schloß nun vollends kaputt sei.
"Das geht mir auf die Nerven", stöhnte Tyra jedesmal, wenn die Tür leise aufschwang.
"Rafa ist immer noch da", deutete ich.
"Und er soll endlich verschwinden", wünschte sich Tyra. "Er soll aus meinem Kopf verschwinden."
Sie habe die Hoffnung gehegt, durch ihre Beziehungen mit Bruce und Gilbert Rafa vergessen zu können, doch leider sei das nicht gelungen.
"Ich verstehe nicht, wie Rafa mich einfach so austauschen kann", sagte Tyra. "Ich verstehe das einfach nicht."
"Der scheint Gefühle einfach wegwerfen zu können."
"Das kann ich nicht fassen."
"Ich kann das auch nicht fassen", erzählte ich. "Dem tut nichts weh, was er anderen antut. Der zeigt Gefühle, ist aber völlig gefühllos. Ich verstehe nicht, wie sowas möglich ist. Das kann ich nur dadurch erklären, daß Rafa überhaupt keinen Bezug zu sich selbst hat. Er spürt sich nicht. Er hat sich selbst weggeworfen. Es gibt ja niemanden, den er mehr haßt als sich selbst."
"Das stimmt!"
"Hast du Rafa eigentlich erzählt, daß ich die rote Herz-Tasse zerbrochen habe?"
"Ja, die habe ich ihm gezeigt und gesagt:
'Hetty hat dein Herz gebrochen.'
Da hat er gefragt:
'Welche Hetty?'
Das fragt er immer, denn ich kenne viele Hettys, insgesamt vier. Ich habe gesagt:
'Na - Elobe.'
Da hat er nur gesagt:
'Die hat doch dein Herz gebrochen, war doch deine Tasse.'"
Tyra erzählte von einem Esoterik-Buch, das Rafa ihr einmal zum Geburtstag geschenkt hat, "Der magische Kubus" von Gottlieb und Pesic. Mit Hilfe eines geheimnisvollen Würfels soll man sich selbst finden können. Ich frage mich, ob Rafa auch schon nach sich selbst gesucht hat - und was er gefunden hat. Eigentlich will er sich ja erklärtermaßen nie begegnen.
Tyra erzählte, Rafa habe sie immer an ihrem Geburtstag besucht, auch als er noch mit Berenice zusammen gewesen sei. Nur in diesem Jahr sei er an ihrem Geburtstag nicht bei ihr gewesen. Er habe sie angerufen und erzählt, er habe noch etwas vor und versuche, trotzdem bei ihr zu erscheinen. Dies tat er aber nicht.
Ivco rief Tyra an und bat sie, am 01.09. mitzukommen zum W.E-Konzert im "Mute". Tyra lehnte ab.
"Es wäre nicht gut, da bin ich sicher", erklärte sie.
Ich ließ Ivco grüßen, und er grüßte zurück.
Tyra wollte wissen, in welchen Handy-Plüschtier ich mein Handy heute verpackt hatte. Ich habe vier Handy-Tiere: Bärchen, Bärchen-Mädchen, Waschbärchen und Füchschen. Heute war Bärchen-Mädchen an der Reihe, das ein blaues Kleidchen mit weißer Spitzenkante trägt und Satinschleifchen auf dem Kopf. Die Tiere müssen regelmäßig in die Waschmaschine und werden umschichtig eingesetzt.
Darienne hat einen Tag nach Tyra Geburtstag. In diesem Jahr fiel Tyras Geburtstag auf einen Samstag und Dariennes Geburtstag auf einen Sonntag. Rafa hatte Darienne übers Wochenende zu Besuch, und man kann sich leicht zusammenreimen, was Rafa am Samstag vorhatte, als er Tyra nicht besuchte. Darienne blieb bis zum Dienstag bei Rafa. Wenige Stunden, nachdem sie gegangen war, meldete sich Rafa bei Tyra.
"Wie schaut's?" erkundigte er sich am Telefon.
"Ich trinke gerade Mezzomix, hä", erzählte Tyra, um ihn zu ärgern, denn Rafa mag Mezzomix.
"Und ich trinke gerade Vitamalz, hä", erzählte Rafa, um Tyra zu ärgern, denn sie mag Vitamalz noch viel lieber als Mezzomix. "Willst du auch ein Vitamalz? Kannst ja vorbeikommen."
"Darf ich mir vorher noch was anziehen?"
Das war Rafa nicht sehr recht, doch Tyra ließ ihn noch eine halbe Stunde warten, zog sich etwas an und kam zu ihm. Rafa gab ihr Vitamalz und kuschelte sich sogleich an sie. Beiläufig berichtete er, daß er Darienne schon wieder betrogen hatte, aber "nur fast", er habe "nur geknutscht und so".
Rafa setzte sich auf Tyra.
"Gehst du sofort von mir 'runter, du drückst mir die Luft ab", wehrte sich Tyra, und er stieg von ihr.
Während Tyra bei Rafa war, rief Wave Tyra an und bat sie, am 01.09. mit ihm zum W.E-Konzert ins "Mute" zu fahren. Er wollte gern bei ihr übernachten.
"Ich gehe nicht hin", lehnte Tyra ab, "ich habe keinen Bock auf den Sch...verein."
Sie empfahl Wave, bei Ivco zu übernachten.
Nach Tyras Telefonat mit Wave fragte Rafa:
"Auf was für einen Sch...verein hast du keinen Bock?"
"Auf den Sch...verein, der solche Flyer herstellt", entgegnete Tyra und zeigte auf den sexistischen Flyer, den Rafa für die Release-Party im "Mute" gestaltet hat.
"He, du verstehst auch keinen Spaß", maulte Rafa.
"Nein, weil ich weiß, daß du das ernst meinst", erklärte Tyra. "Ich weiß doch, daß du Frauen haßt."
"Wenn du das auf dich beziehst, hast du schon mal gar nichts verstanden."
Rafa machte Tyra Vorwürfe. Sie kümmere sich nicht um ihn, sie sei nicht für ihn da, dabei sei er der einsamste Mensch auf der Welt.
"Das muß der gerade sagen", bemerkte ich. "Er, der mehrere Frauen gleichzeitig hat, ist der einsamste Mensch auf der Welt. Und um die Einsamkeit anderer Menschen, die er im Stich gelassen hat, kümmert er sich nicht. Was er anderen Menschen angetan hat, ist ihm völlig egal. Soll sich doch Darienne um ihn kümmern, die hat er sich schließlich als Freundin ausgesucht."
Tyra blieb nur eine Stunde bei Rafa.

In der Nacht träumte sie, sie sei auf der Flucht mit ihrer Halbschwester Lani, die in dem Traum aber erst fünf Jahre alt war, und mit einem Baby, das auch eine Halbschwester von Tyra war, die es in Wirklichkeit aber nicht gibt. Das Baby drohte immer wieder aus dem Tragekörbchen zu fallen, und Tyra gab sehr darauf acht, daß es nicht herausfiel. Die drei wurden verfolgt von einem bösen Mann, das war der frischgebackene Ehemann von Tyras Mutter; in dem Traum hatte die Mutter sich von ihm getrennt, und er bedrohte nun ihre Kinder.
Tyra wurde bedrängt von jener klebrigen Masse in ihrem Mund, von der sie zuletzt geträumt hat, bevor sie Rafa seine Annäherungsversuche untersagte. Die Masse führte dieses Mal nicht zu Erstickungsängsten und nicht zu Übelkeit und Erbrechen; freilich empfand Tyra sie als ausgesprochen widerlich und schaffte es kaum, sie aus ihrem Mund zu räumen. Als es ihr endlich gelang, riß die Masse ihr zwei Backenzähne gleich mit heraus.

"Eine Stunde bei Rafa gewesen, und schon geht es wieder los", deutete ich. "Er ist in Wahrheit der Verfolger, er läßt dich nicht in Ruhe, er will dich weiter für sein Ego mißbrauchen."

Der Traum hatte noch einen zweiten Teil. Tyra war bei Rafa und fragte ihn:
"Wie ist das nun - liebst du mich?"
"Wieso willst du denn das wissen?"
"Weil ich finde, es ist Zeit, diese Frage zu stellen."
"Aber dadurch würde sich für dich doch nichts ändern."
"Doch, dadurch würde sich für mich sehr wohl etwas ändern."
"Wieso, was sollte sich für dich denn ändern?"
"Du würdest dich vielleicht endlich von deiner Freundin trennen, die du sowieso nicht liebst", erklärte Tyra. "Und du würdest endlich zu deinen Gefühlen stehen."
"Dann würde meine Karriere den Bach 'runtergehen."
"Wenn ich dir wirklich wichtig wäre, wäre dir das sch...egal."
"Sag' mal, wieso müssen wir eigentlich wieder mit diesem Thema anfangen?" wehrte Rafa ab.

"So ist er", staunte ich. "Genauso ist er."
"Aber das war doch nur ein Traum."
"Ja, aber du träumst so von ihm, wie er wirklich ist. Das finde ich faszinierend."
Tyra und ich holten Lebensmittel fürs Abendbrot vom Supermarkt. Wir gingen an Rafas Haus vorbei. Der Motorroller stand vor der Garage.
Im Supermarkt kaufte ich unter anderem Milch und eine Packung Haferflocken für Tyras Lebensmittellager.
"He, du willst mich versorgen", deutete sie.
"Na, die Milch kaufe ich aus Eigennutz, für den Tee. Und damit der Rest der Milch verbraucht werden kann, hole ich noch die Haferflocken. 24 Cent, die habe ich auch noch, die sind immer noch drin. Und Haferflocken halten sich lange, sind gesund und machen sehr satt. Deine Mutter hat dir nichts gegeben, als du Hunger hattest ..."
"Ich habe ja auch nichts gesagt."
"Das ist es, du hast nichts gesagt. Ja, ich gebe dir Haferflocken, Rafa gibt dir Vitamalz ... fragt sich nur, was du mehr brauchen kannst."
"Na, ich habe ihm das ja nicht gesagt ... er hätte mir ja schon was gegeben."
"Das denke ich auch, er hätte dir schon was gegeben. Er kann liebevoll und fürsorglich sein ..."
"Ja, er kann sehr liebevoll sein."
"Kann."
"Ach, wodurch sollte er sich nur ändern?" fragte Tyra auf dem Rückweg.
"Wenn er 'Im Netz' lesen würde, würde sich vielleicht was ändern", vermutete ich.
"Er hat übrigens angefangen, deine Geschichte zu lesen", erzählte Tyra. "Aber er hat gleich wieder aufgehört, weil er meinte, das sei zuviel für ihn."
"Na, das glaube ich, daß das zuviel für ihn ist, er muß sich dann ja mit sich selbst auseinandersetzen."
Wir unterhielten uns über Rafas mitmenschliche Charakterzüge, die von seinen unmenschlichen Charakterzügen weitgehend überdeckt werden, wenngleich er sie eigentlich auch hat ... eigentlich.
Tyra hat ein Gedicht geschrieben zum Thema "eigentlich". Sie gab mir einen Ausdruck. In romantischer Schnörkelschrift stand da zu lesen:

- Eigen... -
... Eigentlich ist alles wie immer ...
- aber irgendwie ist doch alles anders.
... Eigentlich liebe ich Dich genauso sehr wie immer ...
- aber irgendwie tut es mehr weh als am Anfang.
... Eigentlich befinden wir uns vor einem Anfang ...
- aber irgendwie sind wir auch am Ende.
Ich am Ende meiner Kräfte und Du am Ende deines Empfindens ...
- weil Du nicht mehr daran glauben kannst,
weil Du nicht wahrhaben willst, daß wir zusammengehören,
oder weil Du einfach nichts mehr für mich empfindest.
... Und eigentlich ist das alles egal ...
- weil es einfach nicht aufhört.
... Warum?

Tyra zeigte mir eines ihrer Diarien, ein Buch mit annäherndem DIN A 4-Format, da hatte sie auf den Zeilen mit Kugelschreiber ihre Erlebnisse notiert. Am 20.10.2004 hatte sie geschrieben:

Rafa hat sich von Berenice getrennt. Jetzt ist endlich der Weg frei für unsere gemeinsame Zukunft. Aber ich muß ihm Zeit geben. Er wird sicher erst eine Pause brauchen.

"Erstens hat Berenice sich von Rafa getrennt und nicht umgekehrt", sagte ich dazu. "Und zweitens ist es doch auffällig, daß du auf ihn Rücksicht nehmen willst. Rafa nimmt auf dich überhaupt keine Rücksicht und hat es auch all die Jahre nicht getan."
Über eine Seite ihres Diariums hatte Tyra diagonal mit großen Lettern geschrieben:
"Ich sterbe ohne dich!"
Auf einer anderen Seite - geschrieben Mitte April des letzten Jahres - beschäftigte Tyra sich mit der Widersprüchlichkeit, durch die Rafa sich seiner Verantwortung für seine Mitmenschen entzieht.
"Warum Darienne?" schrieb sie. "Warum nicht ich?"
Sie stellte zwei von Rafas Äußerungen gegenüber. An einem Tage hatte er zu Tyra gesagt:
"Ich liebe dich. Du bist spezial-wichtig für mich."
An einem anderen Tage hatte er gesagt:
"Du bist nicht so wichtig für mich wie ich für dich."
Tyra schrieb dazu:
"Was ist nun gelogen? Das erste oder das zweite? Ich werde noch geisteskrank!"
Darunter standen Todeswünsche; es sollte endlich Schluß sein, endlich Ruhe.
Als ich das las, sagte ich zu Tyra:
"Den müßte man zu Kleinholz verarbeiten."
"Bist du denn gar nicht eifersüchtig?" fragte Tyra.
"Nein", antwortete ich. "Ich finde keine Eifersucht in mir. Ich finde nur eine unendliche Wut auf Rafa, weil er andere Menschen fertigmacht und keine Verantwortung übernimmt."
"Das ging mir immer im Kopf herum. Eigentlich müßtest du doch eifersüchtig sein. Ich war so viel mit Rafa zusammen. Ich habe ihn in den Armen gehalten, ich hatte Sex mit ihm ..."
"... und er hat dich unglücklich gemacht", gab ich zu bedenken. "Rafa hat bisher alle unglücklich gemacht. Keine Frau auf dieser Welt ist jemals glücklich mit ihm geworden. Er hat immer darauf bestanden, sich nie an jemanden zu binden und niemandem treu zu sein. Er hätte dich heiraten und mit dir eine Familie haben können ..."
"Damals - sofort."
"Und das hat er alles weggeworfen."
"Er hat gesagt, wahrscheinlich will er gar nicht glücklich sein", erzählte Tyra. "Da habe ich erwidert:
'Das ist der größte Unsinn, den ich je gehört habe. Jeder will glücklich sein.'"
"So ist es", bestätigte ich. "Jeder will glücklich sein, jeder will geliebt werden. Rafa ist nur zu feige, sich auf die Liebe einzulassen."
"Warum will er das nicht?"
"Weil das bedeutet, daß er verletzt und verlassen werden kann."
"Ach ja, stimmt", nickte Tyra. "Er hat mal gesagt, er will sich niemals verlieben."
"Eifersucht ist immer sinnlos", meinte ich, "sie schadet nur. Man kann nichts daran ändern, wenn man jemanden liebt oder nicht, auch durch Eifersucht nicht. Und ich kann dir sagen, ich finde es furchtbar, an einen solchen Menschen gebunden zu sein, der mich überhaupt nicht verdient hat. Wenn mir irgendjemand begegnen würde, für den ich mehr empfinde als für Rafa, wäre ich weg. Dann wäre ich ohne Zögern weg. Nur ist es bisher mein Leben lang nicht passiert, nicht bevor ich Rafa kennengelernt habe und nicht danach."
"Rafa ist auch der Einzige, in den ich mich jemals verliebt habe", erzählte Tyra. "Das mit Bruce und Gilbert habe ich angefangen, weil ich gehofft habe, dadurch Rafa vergessen zu können. Das ging aber voll schief."
Tyra klagte, sie sei furchtbar eifersüchtig auf Darienne. Ich meinte, Tyras Eifersucht auf Darienne sei vielleicht in Wahrheit ihre Wut auf Rafa, die sie nicht zulassen könne.
Immer wieder schwang die Schranktür auf.
"Rafa ist immer noch da", sagte ich.
"Der soll endlich verschwinden", wünschte sich Tyra.
Wir bändigten die Tür schließlich mit einem Stück Papier, das zwischen Tür und Rahmen geklemmt wurde.
"Ich kriege Rafa nicht aus dem Kopf, was soll ich bloß tun?" klagte Tyra. "Ich will ihn doch gar nicht mehr, weil ich weiß, daß er sich nie ändern wird."
"Und wenn er sich doch ändern würde?"
"Dann schon. Die Schmetterlinge sind weg - natürlich, nach so langer Zeit. Aber sonst ... diese Gefühle für ihn sind immer noch da."
Ob sie ihn liebe, wisse sie freilich nicht.
"Wenn man unbedingt sofort auf Biegen und Brechen etwas will, geht das meistens nicht", meinte ich. "Und wenn du etwas, das dich so sehr geprägt hat wie deine Beziehung mit Rafa, wenn du das komplett wegschieben willst, geht das auch nicht. So etwas kann man nicht wegschieben, das kann man nur in den Lebenslauf einbauen, als Teil der eigenen Biografie betrachten und damit arbeiten. Ich mache das ja, indem ich alles aufschreibe. Wenn ich etwas aufgeschrieben habe, fühle ich mich innerlich stark und selbstsicher und weniger verletzbar."
"Das ist bei mir umgekehrt", erzählte Tyra. "Wenn ich etwas aufschreibe, geht es mir dadurch zwar besser, aber ich darf das danach nicht mehr lesen, sonst stürze ich richtig ab."
"Neulich hast du mal ein Stück Diarium lesen können, ohne abzustürzen."
"Da ging es aber nicht um Rafa."
"Ja, stimmt."
Tyra erzählte, jedes Nachdenken und Reflektieren über ihre Konflikte mit Rafa könne bei ihr zu schweren Stimmungseinbrüchen führen. So sei es ihr auch ergangen nach unserem letzten Treffen im "Departure" und nach unserem letzten längeren Telefonat. Danach habe sie weinend im Bett gelegen und das Gefühl gehabt, sich aufzulösen.
"Dann ist es doppelt schwer, das Problem zu bearbeiten", meinte ich. "Erstens wirst du durch das Problem selbst bedrängt und zweitens dadurch, daß die Beschäftigung damit gefährlich für dich ist."
Ich meinte, helfen könne dann nur noch die Kreativität. Manche Probleme könne man mit Hilfe des Verstandes nicht lösen, nur durch Kreativität und Intuition könne man es.
"Irgendwann ist es nur noch langweilig, bei Rafa im Keller zu sitzen", meinte Tyra. "Für mich war es nach anderthalb Jahren langweilig. Und wie wir ja gehört haben, ist es für Darienne jetzt schon langweilig."
"Sie sitzt ja auch nur da und sagt nichts", meinte ich. "Sie kann die Beziehung nicht kreativ gestalten."
"Oh, ich habe immer Wege gefunden, die Beziehung kreativ zu gestalten", erinnerte sich Tyra. "Einmal habe ich draußen Stücke aus Ton gesammelt und daraus für Rafa einen Teelicht-Halter gebastelt, und er hat sich voll gefreut über diesen Krimskrams ..."
"Das ist doch kein Krimskrams, das ist doch mit Liebe gemacht."
"Einmal habe ich aus einer Sonnenblume einen Teelichthalter gebastelt."
Die Sonnenblume findet sich wieder in der Mitte eines Bildes, das Tyra gemalt hat. Die Blume ist umgeben von Zeichen für Zorn, Gewalt und Leid. Eines der Zeichen ist Tyras abgehauene Hand, eines ist ein von einem Schwert durchbohrtes Herz.
"Und einmal habe ich für Rafa einen Regenfänger gebastelt, aus einem alten Teppichrohr", fuhr Tyra fort. "Den habe ich ihm vor die Tür gestellt, um mich zu entschuldigen. Darüber hat er sich auch voll gefreut."
"Wofür wolltest du sich denn entschuldigen?"
"Da war er einmal sehr schroff, und ich habe gedacht, das liegt an mir. Ich habe gedacht, daß er sich über mich geärgert hat."
"Ach, er war unfreundlich zu dir, und anstatt daß er sich bei dir entschuldigt, hast du dich bei ihm für seine Unfreundlichkeit entschuldigt ..."
"Ich habe ja alles auf mich bezogen", erklärte Tyra. "Ich habe ja immer gedacht, es liegt an mir, wenn er unfreundlich war."
"Und das hat der ausgenutzt ... anstatt daß er darauf Rücksicht genommen hätte, hat er es auch noch ausgenutzt ..."
"Ich war ja froh, daß er mich angerufen hat und mir gesagt hat, daß er sich gefreut hat. Und dann habe ich mich entschuldigt und gemeint, ich sei wohl nicht nett gewesen, und er hat gesagt, er sei wohl auch nicht nett gewesen."
"Auch? Er allein war es, der nicht nett gewesen ist. Er allein hätte sich entschuldigen müssen."
"Ich habe ja gedacht, ich wäre unfreundlich gewesen."
"Du wußtest damals wahrscheinlich gar nicht mehr, wo oben und unten ist."
Ich erzählte Tyra von einem Artikel in einer Fachzeitschrift, der sich mit sexuellem Mißbrauch in therapeutischen Beziehungen befaßt. Der Artikel beschreibt, wie Therapeuten das Vertrauen und die Verletzbarkeit von Klientinnen ausnutzen. Grenzüberschreitungen in der Therapie sind zwar unprofessionell und strafbar, doch werden die Therapeuten nur in den seltensten Fällen zur Rechenschaft gezogen, weil die Klientinnen sich meistens nicht zu wehren wissen. Die Frauen, die wegen sexueller Übergriffe in Therapie sind, werden nun erneut geschädigt, und in einer Weise, mit der in der Gesellschaft nicht gerechnet wird.
"Je weniger dem Täter die Tat zugetraut wird, je weniger dem Opfer geglaubt wird, je weniger der Täter seine Schuld eingesteht, desto mehr zweifelt das Opfer an seiner eigenen Wahrnehmung - und verstummt", faßte ich die Aussagen des Artikels zusammen. "Auf das Zweifeln folgt die Sprachlosigkeit."
"Ich bin auch verstummt", erzählte Tyra. "Rafa wollte ja nicht, daß ich etwas von unserer Beziehung erzähle."
Sie zeigte Fotos vom Weihnachtsfest 2003, auf denen wirkte sie müde und hatte Ringe unter den Augen. Sie erzählte, ihr sei es damals sehr schlecht gegangen. Sie habe nur so getan, als würde sie sich freuen, und sie habe mit niemandem über ihre Sorgen wegen Rafa gesprochen.
"Es geht darum, den Opfern eine Stimme zu geben", meinte ich.
Tyra fühlt sie von niemandem aufgefangen und sieht sich letztlich immer noch allein mit ihren Sorgen. Auch in ihrem Freundeskreis findet sie keine ausreichende Stütze:
"Meine Freunde können mich nicht halten."
"Irgendetwas muß dich halten."
Ich sprach Tyra auf ihre Religiosität an. Sie erzählte von den Bibelzitaten, die ihr schon in Krisenzeiten geholfen haben.
"Rafa ist ein Energiedieb", meinte Tyra. "Er raubt mir alle Energie. Wenn ich bei ihm war, bin ich immer völlig fertig, dann kann ich mit dem Tag nichts mehr anfangen, dann kann ich mich nur noch ins Bett legen. Das ging mir auch gestern so."
"Das ist die Rumpelkammer in deinem sonst sehr aufgeräumten Leben. Rafas Leben ist eine einzige Rumpelkammer, und er ruft dich her, um von dir einen Abglanz der Ordnung zu bekommen. Er jammert und klagt:
'Hol mich hier 'raus!'"
"Das sagt er doch immer zu mir."
"Was?" staunte ich. "Das sagt er immer? Das habe ich mir doch eben nur ausgedacht."
"Doch, er sagt immer, ich soll ihn retten, ich soll ihm helfen, er ist der einsamste Mensch auf der Welt."
"Er klammert sich an dich."
"Ja, das ist das Klebrige an ihm und wohl auch das Klebrige an dieser Masse in meinem Mund."
"Er nutzt deine Fürsorglichkeit und Hilfsbereitschaft aus. Er, der Täter, klammert sich an sein Opfer."
"Rafa ist auch Opfer."
"Ja, er ist auch Opfer."
"Das sehen aber viel nicht so", sagte Tyra. "Die halten ihn nur für ein A...och und verstehen nicht, daß ich ihm helfen will."
"Rafa ist ein Opfer, das zum Täter geworden ist."
"Aber ohne Opfer zu sein, wäre er nicht Täter geworden."
"Richtig."
"Mensch, warum muß das so sein?" seufzte Tyra.
"Weil das Böse in der Welt ist seit Kain und Abel."
"Ist Rafa auch traumatisiert?" fragte Tyra.
Ich erzählte von Rafas Kindheitserlebnissen, sofern ich davon wußte. Tyra erzählte, daß sie Rafas Mutter als egozentrisch, desinteressiert und dominant erlebte; Rafa habe von ihr gelernt.
Saara hat mir einige schlimme Erlebnisse aus Rafas Kindheit erzählt, die er ihr schilderte, als er vor elf Jahren um sie warb, und ich erzählte Tyra davon.
"Saara war damals gerade zwanzig, das von ihm bevorzugte Alter", setzte ich hinzu.
"Als Rafa mich kennengelernt hat, war ich neunzehn", erinnerte sich Tyra. "Mit einundzwanzig fand er mich schon weniger interessant."
Ich schilderte, wie Rafa Saara den Hof machte und wie er versuchte, mich mit Saara eifersüchtig zu machen. Weder gelang es ihm, Saara "herumzukriegen", noch gelang es ihm, Saara und mich gegeneinander auszuspielen.
"Rafa ist mit Saara nachts in einen Tierpark eingestiegen", erzählte ich. "Das fand er besonders cool."
"Ach, den in Bad N.? Da war er mit mir auch schon!"
"Ach, dann ist das wohl immer dieselbe Masche."
"Hier, diese vertrocknete Distel -" Tyra zeigte auf eine trockene Distelblüte, die sie an der Wand befestigt hatte - "die habe ich von da mitgenommen. Das ist ein Symbol für unsere eingetrocknete Beziehung. Das ist eine tote Blume, und die wird immer tot bleiben."
Wir unterhielten uns über Rafas berufliche Zukunft. Ich meinte, wenn es mit seiner Musiker-Karriere vorbei sei, stehe er beruflich vor dem Nichts.
"Er könnte sich jederzeit als Maler selbständig machen", meinte Tyra.
"Dazu braucht man aber personelle Voraussetzungen, die er nicht hat", gab ich zu bedenken. "Man muß diplomatisch, diszipliniert und zuverlässig sein. Das ist er nicht. Außerdem muß man für eine Selbständigkeit auch investieren, und er hat nichts zum Investieren."
"Das stimmt."
"Und außerdem hat er schon 1994 gesagt, daß er gar nicht mehr in seinem Beruf arbeiten will. Das gehe ihm auf den Rücken, und er vertrage die Farbdämpfe nicht. Und wenn man sich mit einem Beruf selbständig machen will, sollte man den Beruf auch mögen. Und letztendlich ist es mit fünfunddreißig auch gar nicht mehr so einfach, sich selbständig zu machen, wenn man schon über zehn Jahre in dem Beruf nicht mehr gearbeitet hat."
"Was, der ist schon fünfunddreißig?"
"Ja, der ist Jahrgang 1971."
"Also, ich dachte, der ist vierunddreißig."
"Nein, der ist fünfunddreißig. Und er fährt beruflich vor die Wand. Er kann sich noch nicht einmal einen eigenen Haushalt leisten."
"Rafa hat gesagt, er will gar kein regelmäßiges Einkommen. Er hat lieber mal ganz viel und dann mal wieder nichts. Er sagt, dann merkt man, was man hat."
"So redet er sich das schön."
Rafa, der sich in der Welt, in der er lebt, beruflich nicht etablieren kann, verurteilt in seinen Texten diese Welt und stellt sich über sie und die gesamte Menschheit. Ich erzählte Tyra von dem Film "Des Teufels General", in der ein SS-Mann vorkommt, der Nazi-Visionen predigt:
"Wir müssen Ballast abwerfen für den Aufbau einer wirklich neuen Welt."
Tyra und ich fühlten uns dadurch beide an Rafas Texte erinnert. Rafa bezeichnet Menschen gerne als "Ballast" oder "Geschmeiß". Rafa bekennt sich zu keiner Ideologie, doch seine Menschenverachtung erinnert an totalitäre Ideologien.
Als ich mich verabschiedete, sagte ich zu Tyra, ich hoffte, sie werde dieses Mal seelisch nicht so abstürzen wie nach unserem letzten Gespräch.
In SMS-Nachrichten befaßten Tyra und ich uns mit Rafas angeblichem Geheimbund "Perdocti". Rafa hat vor Jahren in Berenices Online-Gästebuch unter dem Namen "Die Perdoctianer" gegen einen Kritiker gewütet und Drohungen ausgestoßen. Was er vermutlich nicht ahnte, war, daß Tyra sich hinter dem Pseudonym des Kritikers verbarg. Zu dem Thema simste ich an Tyra:

Wenn man bedenkt, wie Rafa alias "Die Perdoctianer" damals auf deinen Eintrag in Berenices Gästebuch reagiert hat ... als wärst du Staatsfeind Nr. 1!

Tyra antwortete:

Er wußte ja nicht, daß ich es war! Aber diese geheuchelte IN-SCHUTZ-NAHME! Berenice war ihm egal, aber es war eine Möglichkeit, sich mal wieder dem Haß hinzugeben.

Tyra und ich bezweifeln, daß es Rafa darum ging, Berenice als Person zu schützen. Ihm schien es vielmehr darum zu gehen, Berenice in ihrer Eigenschaft als Teil seines Imperiums zu schützen und Macht zu demonstrieren.
Ende August besuchte ich Odette und Quentin und lernte ihren neugeborenen Sohn Darren kennen. Die Familie ist im Glück. Odette kann nun endlich mit der Trauer um ihren ersten Sohn abschließen, der wegen schwerer Fehlbildungen nicht lebensfähig war. Sie geht in ihrer Mutterschaft auf. Darren hat schon seinen ersten Sammler-Teddy.

In einem Traum sah ich Rafa in einem Aufbahrungsraum auf einem Katafalk liegen. Der Raum war eingerichtet wie ein gewöhnlicher Aufbahrungsraum, jedoch kalt wie ein Tiefkühl-Raum. Rafa war gefroren und eingegossen in Vanilleeis.

"Er ist lecker, aber man kann nichts mit ihm anfangen", fiel mir zu diesem Traum ein.
Als ich wieder bei Tyra zu Besuch war, zeigte sie mir einen Ausschnitt von Stens neuem Video. Sten hatte auf Tyras Wunsch die Szenen aneinandergeschnitten, die er mit Tyra und einem anderen Mädchen am Strand von St. P. O. gedreht hatte. Man sieht Tyra auf der Strandschaukel und das andere Mädchen in den Dünen. Es sind romantische, verträumte Bilder, in Schwarzweiß gehalten.
"Irgendwie passiert hier nichts", dachte ich. "Die Bilder sind schön, aber eine Handlung fehlt."
Tyra ergänzte, daß diese hellen, freundlichen Bilder als Kontrast gedacht sind zu dem Rest des Videos, wo das "Dunkle" dargestellt wird. Sten hat hierfür anscheinend tief in die Klischee-Kiste gegriffen und plakativ Drogenkonsum, Gewalt und andere Mißstände vorgeführt. Tyra wollte diese Aufnahmen nicht haben, nur die hellen, sanften am Meer. Tyra berichtete, nach unserem letzten Treffen habe sie zwar geweint, doch habe sie keine Angstzustände, Erstickungsgefühle und dergleichen gehabt. Sie habe in der Zwischenzeit auch keine Träume von der klebrigen Masse gehabt. Als sie aber ein Kaugummi gegessen habe, daß sie sonst immer gern mochte - eines, dem ein Tattoo-Bildchen beliegt, das man anfeuchten und auf die Haut bringen kann -, da habe das Kaugummi sie an die eklige Masse in Traum erinnert, und sie habe es nicht zuendekauen können.
Ich erzählte von einem Traum, den ich hatte, als ich dreizehn war. Damals war ich in den Sommerferien bei meiner Tante.

Ich träumte von einer weitläufigen grauschwarzem Halle, die nur schwach beleuchtet war. Der Boden bestand aus grauschwarzem Waffelbeton, wie er in Umkleideräumen von Freibädern zu finden ist. Die Halle war ein Kleiderlager, in dem auch verkauft wurde. Ich sah einige Rundständer mit Mänteln aus billigem Kunststoff. Ich fand sie furchtbar häßlich. Es gab Mäntel aus dünnem Kunstgewebe mit einem wirren Muster in Braun- und Rottönen, und es gab kunststoffbeschichtete Mäntel aus Kunstfaser in Weiß mit großen braunen Blumen darauf, die den Blumen auf Spülmittelflaschen ähnelten, nur noch simpler gestaltet waren. Diese Mäntel sollten die Zukunft der Mode darstellen, eine Mode ohne Naturfasern. In der Luft lag ein Geruch wie nach Auspuffgasen. Das waren Absonderungen der Kunststoffe.

Den Geruch verbrannter Kohlenwasserstoffe behielt ich im Kopf und konnte ihn nicht loswerden, nachdem ich aufgewacht war. Er begleitete mich tagelang, und noch heute erinnere ich mich daran. Tyra erzählte, daß die eklige Masse in ihren Alpträumen auch irgendwie nach Tankstelle roch.
Tyra raucht inzwischen wieder, beschränkt sich jedoch auf wenige Zigaretten am Tag. Ich erzählte von Carl, dem es geglückt ist, auf Dauer seinen Zigarettenkonsum stark zu begrenzen. Tyra machte sich Vorwürfe, weil sie wieder angefangen hat.
"Besser wenige Zigaretten am Tag als mehrere Schachteln", meinte ich. "Wieviel raucht Rafa eigentlich am Tag?"
Tyra überlegte. Ich fragte sie, wieviele Stunden Rafa täglich wach ist und wie oft er sich pro Stunde eine Zigarette ansteckt. So rechneten wir aus, daß Rafa zwei Schachteln am Tag raucht, wenn er nicht ausgeht. Wesentlich mehr raucht er, wenn er ausgeht; dann raucht er fast Kette, fast eine nach der anderen, er kaut nur zwischendurch Kaugummi.
Tyra vermutete, daß Darienne sich gerade bei Rafa aufhielt.
"Ich glaube nicht, daß Darienne immer mit dem Auto herkommt", meinte sie. "Sonst habe ich sie ja auch gesehen, wie sie vom Bahnhof kam und hier vorbeigegangen ist."
Tyra träumt oft von Rafa. Sie unternimmt in diesen Träumen viel mit ihm. Darienne erscheint auch, bleibt aber unwichtig und im Hintergrund. Wenn Rafa in den Träumen mit Tyra ins Bett gehen will, sagt sie zu ihm:
"Ich will dich nicht."
Sie wolle ihn zwar schon, aber nur unter Bedingungen, die er ohnehin nicht zu erfüllen bereit sei.
Als ich mich erkundigte, ob Tyra sich noch auf Rafas Sofa setzt, antwortete sie, dieses Sofa gehe ja über Eck, und auf das kürzere Ende setze sie sich noch, denn da halte Rafa keine Schäferstündchen ab.
Tyra und ich unterhielten uns über eines von Rafas neuesten Interviews. Darin sagt er unter anderem:
"Wahrer Sex-Appeal liegt fast immer ausschließlich im Gehirn einer Frau."
Tyra meinte, durch diese Aussage wolle Rafa vermitteln, daß ihm wichtig ist, daß eine Frau geistvoll und intelligent ist.
"Das mag vordergründig so wirken und auch so gemeint sein", entgegnete ich, "aber erstens ist es gelogen ... Rafa will gar nicht, daß die Frauen, die er sich hält, intelligent und geistvoll sind. Er mag es zwar behaupten, es ist aber nicht so. Er will, daß seine Freundinnen und Geliebten ihm alles nachplappern und nur das tun und denken, was er will. Er hat ja auch versucht, Berenice von ihrem Studium abzuhalten, und er hat Darienne wahrscheinlich eingeredet, sie würde keine Ausbildung brauchen ... zumindest hat er sie wohl nicht nennenswert zu einer Ausbildung motiviert. Zweitens ist da noch etwas anderes, das ich ausgesprochen widerlich finde: Rafa maßt sich ein angeblich objektives Urteil über Frauen an. Er will entscheiden, welche Frau wie sexy ist und welche Frau wieviel wert ist. Er betrachtet sie wie Waren in einem Supermarkt. Er will entscheiden, wieviel ein Mensch wert ist."
"In seinen Augen ist niemand etwas wert."
"Eben", nickte ich. "Nicht einmal er selbst ist sich etwas wert. Deshalb will er der Einzige sein, der etwas zu sagen hat. Weil er sich selbst nicht wertschätzt, entwertet er die gesamte Menschheit, in der Hoffnung, sich dadurch aufzuwerten. Das ist die Aussage, die Rafa im Hintergrund transportiert ... was aber wohl kaum jemandem bewußt wird. Die Leute, die den Satz im Interview lesen, denken wahrscheinlich fast alle, Rafa würde dadurch seiner Wertschätzung für Frauen Ausdruck verleihen, dabei ist das Gegenteil der Fall."
Tyra und ich unterhielten uns über psychiatrische Kliniken. Tyra meinte, wenn Rafa versuchen würde, sich umzubringen, käme er vielleicht in die Psychiatrie, und vielleicht würde ihm das helfen.
"Oh, das glaube ich nicht", entgegnete ich. "In Kingston hatte ich schon so viele narzißtisch gestörte Männer nach Selbstmordversuchen, und ich befürchte, kaum einer wird daraus etwas gelernt haben."
"Aber das wäre doch so kränkend für Rafas Image, wenn er in die Psychiatrie müßte."
"Der würde sich das auch schönreden", vermutete ich. "Der würde mit den anderen Patienten vorm Fernseher sitzen und rauchen und sich aufspielen, weiter nichts."
Ich schilderte die Geschichten einiger narzißtisch gestörter Patienten.
"Anonymisiert kann man doch alles erzählen, oder?" fragte Tyra.
"Aber sicher", antwortete ich. "Sonst könnte man in der Forschung ja keine Fallberichte austauschen."
"Oh, ich mag Fallberichte!"
"Ja, die finde ich auch so interessant!"
Anonymisiert erzählte ich von einem Mann, der sich von wechselnden Frauen aushalten ließ. Er hatte eine "Solarium-Sucht". Er meinte, er bilde sich ein, durch das Solarium seine Selbstunsicherheit "wegbrennen" zu können. Kontrastierend zu der überbräunten Haut trug er ein Hemd aus silbrigem Satin und eine Goldkette. Wohl um mit der Bräunungs-Sucht nicht so allein zu sein, nötigte er seine jeweiligen Lebensgefährtinnen, sich ebenfalls im Solarium überbräunen zu lassen. Er schwärmte ihnen vor, wie ästhetisch das sei, und schließlich waren sie bereit, es ihm gleichzutun. Der Mann kam nach Kingston, weil er gerade keine Bleibe hatte. Als wieder eine Frau bereit war, ihn bei sich aufzunehmen, verließ er die Klinik.
Außerdem erzählte ich von einem kriminellen Spielsüchtigen aus dem Rotlicht-Milieu, dessen Vater sich umgebracht hatte, weil er davon ausging, demnächst von Gangster-Kollegen gemeuchelt zu werden. Der Sohn hatte nun aus gleichem Grund ebenfalls einen Selbstmordversuch unternommen - mit dem Insektenvernichtungsmittel E 605 und Schnaps. Er überlebte, weil er von einem Hund gefunden wurde, dessen Herrchen den Rettungsdienst alarmierte.
Tyra und ich holten im Supermarkt Tee, Schokolade und Ravioli. Tyra erzählte, daß die Haferflocken, die ich ihr letzte Woche gekauft hatte, schon geholfen hatten, sie vor einer neuen Hungerphase zu bewahren. Tyra machte für uns mehrere Kannen Schwarztee. Als es schon recht spät war und wir beschlossen, noch eine weitere Kanne zu trinken, erinnerte sich Tyra, daß ihr Großvater, wenn er mit einem alten Kumpel feierte, öfters sang:
"Die Sonne scheint ins Kellerloch."
Darauf sang der Kumpel:
"Ein'n könn'n wir noch! Ein'n könn'n wir noch!"
Am Ende der Feierei, wenn er sang:
"Die Sonne scheint ins Kellerloch."
- sang der Kumpel:
"Dann laß se doch! Dann laß se doch!"
Tyra verstand damals nicht die Bedeutung dieses Trinkliedchens. Sie freute sich nur, weil die beiden so lustig sangen.
Ich erzählte von einem Artikel in einer Fachzeitschrift. Darin steht zu lesen von neuen Forschungsergebnissen über die Therapie von Suchtkranken. Bisher sei man davon ausgegangen, daß eine Sucthttherapie nur Sinn habe, wenn der Suchtkranke bereits die Motivation entwickelt habe, dem Suchtmittel zu entsagen. Inzwischen habe man jedoch herausgefunden, daß die fehlende Motivation zur Abstinenz ein Bestandteil der Suchterkrankung sei und daß daher eine Suchttherapie schon bei der Motivationsbildung beginnen müsse. Es gehe nicht darum, abzuwarten, bis der Suchtkranke von selbst einen Abstinenzwillen entwickle, sondern es gehe darum, den Abstinenzwillen zu erzeugen.
"Das ist es doch, worüber ich mir seit dreizehneinhalb Jahren den Kopf zerbreche", sagte ich. "Immer wieder habe ich mich gefragt, was in Rafa den Wunsch entstehen lassen könnte, mit dem suchthaften Konsum von Zigaretten, Alkohol und Frauen aufzuhören. Und jetzt beginnt die Forschung endlich, sich mit diesem Thema zu beschäftigen. Eine Antwort auf diese Frage steht in dem Artikel freilich nicht ..."
"Frag' doch mal einen Psychiater, ob er es weiß", schlug Tyra vor.
"Die wissen auch nicht mehr als ich."
"Ach, du hast die schon gefragt ..."
"Ja, natürlich habe ich mit Fachkollegen schon über den Fall gesprochen, aber dazu kann ich schon mehr sagen als die", erzählte ich. "Es ist schlimm, daß sich bei Rafa so gar nichts entwickelt. Er ist immer unruhig und hektisch, aber alle Unruhe führt nicht zu einer Verhaltensänderung. Nichts, was Rafa bisher erlebt hat, hat ihn ihm eine Entwicklung hin zu sich selbst und zu seinen Gefühlen induziert. Auch Panikattacken und Einsamkeitgefühle können in ihm nichts verändern."
"Und wenn doch, ist es der Selbstmord."
"Ja, leider kann ich mir bei Rafa auch nichts anderes vorstellen, als daß er sich bei einer ernsten Krise umbringt."
Ich erzählte von Henk. Der hatte 1986 auch diese starke Unruhe, eben dieselbe wie bei Rafa. Im November 1986 hatten Deon und ich in der abendlichen Dunkelheit Henk in seiner Küche in BS. auf einem Sessel sitzend vorgefunden. Henk war seltsam abweisend und wortkarg, regte sich dann ohne erkennbaren Grund auf und rannte aus der Wohnung. Nun entdeckten Deon und ich erst, daß Henk mit einem dunkelroten Lippenumrandungsstift auf die Küchenwand geschrieben hatte:
"Ich fühle Scheiße und ich bin schuld daran."
Henk hatte so aufgedrückt, daß der Stift kaputtgegangen war, und was von dem Stift übrig war, lag am Ende des Satzes auf dem Fußboden.
Deon und ich standen Arm in Arm vor dem Schriftzug und machten uns Sorgen. Wir befürchteten, daß Henk sich etwas antat. Wir suchten ihn draußen, und als wir zurückkamen, kam Henk auch bald zurück. Er unternahm tatsächlich zahlreiche Suizidversuche, aber erst in den Jahren danach. Unsere Befürchtungen waren also berechtigt gewesen.
Tyra erinnerte sich, wie Henk auf meiner Geburtstagsparty von seiner damaligen WG-Genossin Netty erzählt hatte. Einmal habe Netty betrunken auf dem Balkongeländer gestanden und angekündigt, daß sie springen werde. Da habe Henk sie angefeuert:
"Los, spring! Nun spring endlich!"
Netty sei schließlich von dem Balkongeländer wieder heruntergeklettert.
In der Kantine unterhielt ich mich mit meinem Kollegen Barnard über den Säntis-Gipfel. Ich erzählte, daß ich 1980 mit der Seilbahn auf dem Säntis-Gipfel war, bei strahlendem Wetter, und daß ich dort meine ersten "richtigen" Fotos machte, imposante Aufnahmen von der schneebedeckten Bergwelt.
"Letzte Nacht habe ich von dir geträumt", erzählte Barnard. "Du hast gesagt, du hast angefangen zu fotografieren, als ich aufgehört habe. Und ich habe 1980 aufgehört zu fotografieren."
Vor 1980 hatte Barnard bei Bekannten ein Fotolabor zur Verfügung, und als die Möglichkeit nicht mehr bestand, Bilder selbst zu entwickeln, hörte er mit dem Fotografieren ganz auf.
Pfleger Tom hat von seinen Schülerstreichen erzählt. In der Schulzeit hat er in der Pause die Birnen in den Lampen losegedreht und feuchtes Papier zwischen Birnen und Kontakte geschoben. Während des Unterrichts war irgendwann das Papier getrocknet, die Lichter gingen aus, und der Lehrer ahnte nicht, warum. So kam es, daß einmal der Unterricht zur Hälfte ausfallen mußte.
Tom erzählte außerdem von seiner Arbeit als Tischler, vor seiner Zeit als Krankenpfleger. In dem Betrieb, wo er damals beschäftigt war, gab es eine Lackierkammer. Ein Auszubildender, der dort lackieren mußte, kam auch am Wochenende in den Betrieb, nur um sich in die Lackierkammer zu setzen und die Lösungsmitteldämpfe zu schnüffeln.
Seine Tischlerausbildung war für Tom hilfreich, als er sich einmal im Urlaub doppelt aussperrte. Im Hotelzimmer drehte er den Schlüssel herum, ging auf den Balkon, schloß die Balkontür und konnte sie danach nicht mehr öffnen, weil sie klemmte. In luftiger Höhe kletterte er auf den Nachbarbalkon, bat mit Händen und Füßen um Einlaß und versuchte dann mit Hilfe des Hotelbetreibers, zurück in sein Zimmer zu gelangen. Da der Schlüssel von innen steckte, half der Zweitschlüssel nichts. Tom warf sich schließlich mit Anlauf gezielt gegen die Tür, die er unter Opferung des Türschlosses aufbrach. Als Tischler konnte er auch gleich ein neues Schloß einbauen.



Anfang September ging ich mit der Freikarte, die ich im "Nachtbarhaus" gewonnen hatte, ins "Mute", wo Rafa auftrat. Sylvain kam mit; er war als Übernachtungsgast bei mir.
Als wir eben hereinkamen, begann das Konzert mit einem langgezogenen Intro. Die Bühne war mit einer großen, leicht durchsichtigen Leinwand verhängt, unterteilt in neun Felder mit unterschiedlichen Projektionen.
Das Prinzip der Bühnenshow war ähnlich wie bei dem Konzert in der Bastei in L. Die Bandmitglieder wurden gefilmt, es erfolgte eine direkte Übertragung auf die Leinwand, und zwischendurch erschienen sie auch live. Als Kappa das Signal zum Start gab, winkte er Rafas Konterfei auf der Leinwand zu, und der machte eine Antwortgeste.
Auf vier Feldern erschienen die Bandmitglieder, auf zwei Feldern sah man durch die Leinwand die Schattenrisse von Gogos, die mit den Armen wedelten, und auf weiteren Feldern sah man Dias von C64-Details und experimentelle Videos. Die Besetzung der Felder wechselte gelegentlich. Mal sah man unten statt der Gogos Lucy und Darienne hinter der Leinwand mit den Armen wedeln, mal erschienen die Bandmitglieder teilweise oder vollzählig mit oder ohne Gogos vor der Leinwand. Einmal sah man auf zwei Feldern, wie die Bandfrauen die Gogos wie Klaviere bearbeiteten; die Gogos waren umgürtet mit jenen als Tonabnehmer zurechtgemachten Gummiplatten, die schon bei mehreren Bühnenshows dienten. Dieses Mal trugen die Gogos schwarze Dessous und waren damit mehr bekleidet als sonst. Die Bandfrauen hatten trägerlose Corsagenkleider an, weiß mit einem grünlichen Blümchenmuster, dazu weiße Kunstperlenketten und weiße Abendhandschuhe. Die tätowierte Darienne machte sich in einem solchen Kleid etwas seltsam aus, zumindest war es ein gewisser Stilkontrast. Darienne hat vorn links einen tätowierten Schmetterling, der über der Corsage gut zu sehen war, und der Rücken ist bedeckt mit einem schwarzen Schnörkelmuster.
Rafa verwendete viele Samples von ehemaligen Sängerinnen, auch welche von Zinnia. Als die Bandfrauen vor der Leinwand allein einige Textzeilen singen mußten, erklangen ihre Stimmen durch Effekte verzerrt und verfremdet.
Im Laufe des Konzerts fand die Performance mehr und mehr vor der Leinwand statt. Die Damen mußten die Fahnen schwingen, die Wave und seine Freunde gebastelt hatten. Einmal mußten sie sich rechts und links vorn auf Drehteller stellen und wurden gedreht. Auch mußten sie wieder die Gestelle mit den Dreiecken aus Leuchtröhren drehen, rechts und links. Für diese Arbeit zogen sie sich um und erschienen in schwarzen Ledertops und Lederhosen, mit offenen Haaren.
Rafa zuckte und hüpfte wie gewohnt auf der Bühne herum, die Augen versteckt hinter blauen Brillengläsern. Er schlug auf sein Ölfaß ein und sang:
"Laß mich dein kleiner Jesus sein!"
Luftballons mit Bandlogo und Papierflieger schwebten durchs "Mute", und Rafa freute sich, weil das Publikum sich auf sein Kommando amüsierte.
Sylvain und ich standen vorne links. Man konnte auf diese Weise die Bühne gut sehen, ohne angerempelt zu werden.
Als Rafa das Publikum laut rufen und klatschen ließ und schließlich Zugaben gewährte, rief ein Junge, der in unserer Nähe stand, leidenschaftlich:
"Das war eins der grottigsten Konzerte, die ich je gesehen habe! Also, Playback kann man auch besser machen! So besoffen kann ich gar nicht sein, daß ich nicht merke, daß die voll danebenliegen! Und diese Bübchen sind stolz darauf, daß die Stücke aus dem C64 kommen. Mensch, heute gibt es PC's mit 4 GB, damit kann man richtige Musik machen."
Das Konzert dauerte insgesamt etwa eineinhalb Stunden. Als die Fans noch mehr Zugaben herbeiklatschen wollten, entschuldigte sich Kappa durchs Mikrophon:
"Rafa ist müde, der kann nicht mehr."
Rafa hatte die Veranstaltung, die unter dem Titel "New Wave Night" schon länger angekündigt war, erst vor Kurzem zum diesjährigen W.E-Fanclubtreffen erklärt. Gewöhnlich dauern die Konzerte, die Rafa auf Fanclubtreffen gibt, deutlich länger als eineinhalb Stunden.
Im "Mute" war es mäßig voll, etwa dreiviertelvoll. Viele "Mute"-Stammgäste waren da. Nichts war so organisiert wie sonst bei W.E-Fanclubtreffen. Es gab weder eine Raritäten-Verlosung noch eine limitierte T-Shirt-Edition noch eine Computer-Spielecke. Nur einen Merchandize-Stand gab es, wie bei anderen Konzerten auch. Rafa zeigte sich nach dem Konzert lange nicht im Publikum. Darienne war einige Male im Foyer, um sich bewundern zu lassen und Autogramme zu geben. Lucy wurde von Kitty stürmisch begrüßt, auch Dolf ließ sich sehen. Rafa versteckte sich im Backstage, und W.O.L.F., der am Merchandize-Stand half und deshalb einen Backstage-Paß hatte, leistete ihm dort Gesellschaft.
Weil W.O.L.F. so lange im Backstage war, sah ich ihn nur kurz. Auf meine Frage, wie es ihm gehe, antwortete er:
"Na ja ..."
"Der hat alles, was er sich wünschen kann", berichtigte Artemis. "Der hat einen Job, ein Auto, eine Freundin!"
Das bestätigte W.O.L.F. und setzte hinzu, ja, das freue ihn sehr.
Artemis sagte über das heutige Konzert, es sei als Release-Konzert angekündigt gewesen, aber es seien nur wenige Stücke von dem neuen Album gespielt worden, das passe nicht.
Als Überraschungsgast war Bibian im "Mute", die Wirtin vom "Keller". Sie erzählte, sie sei von ihrer Belegschaft hierher gescheucht worden, man habe keine Widerrede gelten lassen.
Ivco und Carole waren schon vor Konzertbeginn ins "Mute" gekommen. Ihnen beiden gefiel das Konzert sehr. Als ich Ivco von meinen Treffen mit Tyra erzählte, sagte er:
"Ach, da würde ich so gerne mal Mäuschen spielen, wenn ihr euch unterhaltet."
"Das kannst du gern", bot ich an. "Du kannst gern mal dabei sein."
Das wollte er dann aber doch nicht. Er passe da wohl nicht hin.
Herr Lehmann war mit seiner Freundin im "Mute". Er trug eine pinkfarbene Irokesenfrisur. Als ich ihn fragte, wie es ihm gehe, antwortete er:
"Bösen Leuten geht es immer gut."
Er bat mich, in "Im Netz" nur Gutes über ihn zu schreiben und keine Lügen. Diesbezüglich konnte ich ihn beruhigen. Er meinte, unter diesen Voraussetzungen habe er nichts gegen die Geschichte einzuwenden.
Ivco half beim Bühnenauf- und -abbau. Während er damit beschäftigt war, Bühnenrequisiten in den Transporter zu laden, saßen Carole und ich auf Barhockern vor der Garderobe im Foyer. Carole trug ein schickes Etuikleidchen, eine Perlenkette und eine Steckfrisur, passend zu dem von Rafa bevorzugten Retro-Stil. Ich trug das mit rotem Organza bespannte Lack-Korsett und als Knotennadeln zwei pinkfarbene Leuchtstäbe.
Während Carole und ich uns unterhielten und das "Mute" sich langsam leerte, erschien Rafa vor der Bar im mittleren Teil des Foyers auf der gegenüberliegenden Seite und redete mit Anwar und anderen Bekannten. Rafa trug nun eine graue Lodenjacke mit aufgestickten schwarzen Schnörkeln. Die Sonnenbrille hatte er abgenommen.
Rafa schien mich zwischen den Pfosten der Bar hindurch zu mustern. Nach einer Weile schien er sich einen Ruck zu geben, und er ging auf Carole und mich zu. Aus einem Abstand von einem Meter sprach er Carole mit freundlichem Lächeln an. Der Gesprächsabstand zwischen Rafa und Carole war überschritten, gewöhnlich kommt man näher an sein Gegenüber heran. Ich stieg von meinem Barhocker und haschte nach Rafa. Mit theatralisch entsetztem Gesichtausdruck und weit aufgerissenen Augen wich er zurück.
"Hui!" rief ich. "Schnell weglaufen! Los, schnell weglaufen!"
Rafa ließ sich das nicht zweimal sagen und rannte in den Tanzsaal.
Morgens nahm ich Artemis mit, die sonst zwei Stunden lang im Bahnhof auf ihren Zug hätte warten müssen. Von vier bis fünf Uhr frühstückten Artemis, Sylvain und ich bei mir. Artemis erzählte, daß sie Holzfacharbeiterin ist, etwas Ähnliches wie Tischlerin, nur mit dem Unterschied, daß Tischler der Innung zugeordnet sind und ein Gesellenstück abliefern müssen.
Im "Mute" habe ich zwei CD's gekauft, einen Sampler mit Stücken von Rafas früherem Projekt Feindsender und Rafas neues Album. Die Texte finde ich vorhersehbar; es sind immer dieselben Themen, dieselben Floskeln. Rafa will durchs All fliegen und irgendeine austauschbare Geliebte mitnehmen. Neu ist, daß Rafas aggressive, menschenverachtende Haltung offensichtlicher zutage tritt.



Am Samstagnachmittag fuhr Sylvain nach Hause, und ich fuhr zur "Salix". Sie fand dieses Jahr in einer anderen Location statt, dem Saal eines Landgasthofs, der ähnlich gemütlich ist wie die vorherige Location. An einem Tresen gab es Getränke und Kuchen. Im Saal war in zwei Doppelreihen Tisch an Tisch gerückt. Rafa hatte sich mit Darienne in der äußersten hintersten Ecke niedergelassen. Er setzte seinen Riesen-Sonnenbrille nie ab. Es war dieselbe Brille, die er schon bei der letzten "Salix" trug. Rafa hatte ein Longsleeve-Shirt mit aufgedruckten Totenschädeln an und eine abgetragene schwarze Hose.
"Kindisch", dachte ich.
Darienne trug ein tailliertes schwarzes Blüschen mit weißen Pünktchen, eine schwarze Schlaghose und schwarzweiße Stoffturnschuhe. Ihre Haare waren offen, und sie hatte ihre Brille aufgesetzt. Ihr Gesicht war bleich geschminkt, wie mit Plastik überzogen, die Mundwinkel hingen tief herunter.
"Zu Darienne paßt kindische Garderobe noch", dachte ich, "bei Rafa sieht es nur lächerlich aus."
Rafas modischer Stil paßt schon lange nicht mehr zu meinem. Ich versuche auch nicht, meinen Stil dem seinen anzupassen. Ich ging feminin mit dunkelrotem Taftrock und dem Choker aus Atw. mit dunkelroten, grauen und schwarzen Röschen.
Im Eingangsbereich des Saales stand ein Kassiertisch, auf dem lagen Anwesenheitslisten und Ausgaben einer C64-Zeitschrift - derjenigen, in der Rafa Comics veröffentlicht und eine Ratgeber-Seite betreibt. Als ich mit Zen am Kassiertisch stand, stellte Rafa sich zu uns an die Stirnseite und gab Zen sein neues Album "Chaos total" in der limitierten Version. Rafa kam auf diese Weise dicht an mich heran, tat aber so, als sei ich nicht da. Er wies Zen auf die Details in der Covergestaltung hin. Es gehört ein Wackelbild dazu, außerdem ein "Magic Eye"-Bild, das bei bestimmter Betrachtungsweise ein dreidimensionales Bild erkennen läßt.
"Anfang der neunziger Jahre kam das auf", erzählte Rafa, "da gab es die überall ..."
"Ich weiß", sagte Zen. "Ich konnte das aber nie sehen."
"Ich konnte das auch nie", sagte ich.
"Meine Frau kann das, aber ich nicht", sagte Zen.
Rafa wies darauf hin, daß er Anfang November im "Zone" ein Konzert geben werde.
"Ist fest eingeplant", sagte Zen.
"Da kann ich nicht", sagte ich. "Da bin ich beim 'Stahlwerk'-Festival in HH."
Rafa redete mir dazwischen und zeigte Zen ein Kabel, das er in den Händen hielt.
"Das Kabel kann man für Autoradios nehmen", erklärte Rafa.
Er redete noch ein bißchen über das Kabel und ging dann weiter.
Rafa war viel zwischen den Gästen unterwegs. Darienne saß meistens in der gemeinsamen Ecke oder woanders vor einem Computerspiel. Sie hatte kaum Kontakt zu den anderen Gästen. Ab und zu wurde sie von Rafa mit dem halblauten Ruf "Toni!" herbeordert.
Zen zeigte auf das einzige Kind, das heute da war, einen etwa achtjährigen Jungen, der unweit von uns mit drei anderen Gästen ein Computerspiel spielte, jeder von ihnen mit Joystick.
"Der spielt seit gestern nur 'Bombmania'", erzählte mir Zen über den Jungen. "Der ist völlig begeistert."
Zen bekam Besuch von einer Journalistin, die für die Lokalzeitung schrieb. Er berichtete, daß wie gewohnt etwa dreißig Gäste hier waren und daß sie aus allen Teilen Deutschlands kamen und zwei sogar aus Belgien. Das waren Kirk und seine Freundin. Ich sah außer ihnen noch viele andere Leute wieder, die ich von der letzten "Salix" kannte. Tigro war auch wieder dabei, ein großer Katzenfreund. Ihm erzählte ich, daß ich bald neue Kätzchen habe, weil mein Kater Bisat an Altersschwäche gestorben ist.
Zu Marius sagte ich, daß mir die Anti-TKKG-Geschichten auf seiner Homepage sehr gefallen, und ich erkundigte mich, wann er wieder eine online stellt. Marius erzählte, er habe bereits mehrere neue Anti-TKKG-Geschichten geschrieben, es aber noch nicht geschafft, sie online zu stellen, weil die wenige Freizeit, die ihm bleibt, dafür kaum ausreicht. Marius arbeitet in B. als Informatiker bei einem Zustellunternehmen. Marius findet die Arbeit eintönig, immer geht es nur ums Versenden und Empfangen. Seine Abteilung ist unterbesetzt, Überstunden werden erwartet, und die wenigen Urlaubstage - nur einundzwanzig, die gesetzliche Untergrenze - werden ihm auch nicht alle zugestanden.
"Das kann es auf Dauer nicht sein", fand ich.
In einer Ausgabe der C64-Zeitschrift entdeckte ich ein Interview mit W.E, wo nicht nur Rafa zu Wort kam, sondern auch Dolf und Zinnia. Dolf gab freilich das Wort an Rafa ab, mit der Begründung, Rafa sei der Chef der Band und daher eher befähigt, Fragen zu beantworten. Im Interview wandte Rafa sich gegen Menschen, die keine Kritik zuließen und unfähig zur Selbstkritik seien.
"Das muß er gerade sagen", dachte ich, "ausgerechnet er, der sich diesen Vorwurf selber machen müßte."
Darienne spielte eine Weile bei "Bombmania" mit. Unterdessen verewigte Rafa sich auf einem Tonkarton an der Wand, wo auch die anderen Gäste ihre Namen oder Pseudonyme hinterließen. Rafa malte den W.E-Schriftzug und schrieb "Honey" dazu. Als er fertig war, schrieb ich in die Mitte des Kartons links neben seiner Signatur die meinige, "Fractal" und darunter die URL meiner Domain, recht groß und deutlich. Darienne verewigte sich nicht auf dem Karton.
Rafa spielte mit drei anderen Herren im Vorraum des Saales Tischfußball. Ich kam zufällig vorbei, und weil Rafa mit dem Rücken zum Gang stand, konnte ich ihm mit dem Unterarm am Rücken entlangstreichen. Rafa hörte kurz danach auf mit dem Tischfußball und wanderte wieder durch den Saal.
Als die "Bombmania"-Spieler aufhörten, setzte Darienne sich im Mittelgang an einen Rechner und spielte dort allein. Sie rauchte viel. Außer ihr war es nur noch Rafa, über dem blaue Wolken schwebten. Die anderen Gäste rauchten fast gar nicht.
Gameboy und ich beschäftigten uns mit dem Rechner, an dem "Bombmania" gelaufen war. Rafa kam öfters an unserem Platz vorbei und blieb manchmal auch dort stehen, was aber für ihn nicht verfänglich war, denn dort kamen viele Leute vorbei.
Gameboy und ich unterhielten uns über die Spiele und Demos, die Gameboy als Floppy in den Rechner lud. Ein "Blindgänger" war dabei, ein rechtsradikales Demo, das Gameboy sofort wieder abschaltete.
"Sowas schleicht sich dazwischen, wenn man mit vielen Leuten Dateien austauscht", wußte er. "Weg damit, nur weg damit."
Ich erzählte von meiner Vorliebe für Fraktale, und Gameboy erzählte von einem seiner Bekannten, der eine Website mit lauter Fraktalen betreibt. Im Internet gibt es sogar Software mit Bastelanleitung zur Erstellung von fraktalen Kunstwerken.
Das Demo zu dem C64-Spiel "Metal Dust" wurde vorgeführt. Marius meinte, jedesmal laufe das, er könne es schon nicht mehr sehen. Die Musik zu dem Spiel ist das gleichnamige Stück von Rafa. Marius erzählte, während des Spiels laufe das Stück die ganze Zeit im Realton, und dafür seien so große Datenmengen notwendig, daß das Spiel ausschließlich auf C64-Rechnern laufe, die mit einer Super-CPU ausgestattet seien. Super-CPU's seien aber kaum noch zu bekommen, daher gebe es kaum jemanden, der die Möglichkeit habe, "Metal Dust" zu spielen ... allein wegen des Sounds. Ohne Sound sei es möglich, das Spiel auf jedem C64-Rechner zu spielen.
Was das Spiel selbst betreffe, so habe es vier Jahre gedauert, bis es fertig gewesen sei, und es wirke nach wie vor unausgereift, weil es so angelegt sei, daß man es eigentlich nicht schaffen könne.
Marius und Zen begannen die heutige Wettbewerbs-Serie mit dem "Scener Duell". Zwei Gruppen - eine geführt von Gameboy, eine geführt von Rafa - sollten Antworten erraten, die C64-Freaks auf bestimmte Fragen gegeben hatten. Rafa besprach sich mit seinen Gruppenmitgliedern, zu denen auch Darienne gehörte.
Besonders gefiel mir ein selbstgebastelter Aufbau, eine schrägverlaufende Schiene, verbunden mit einem Rechner. Auf der Schiene bewegte sich eine Figur nach oben, analog der Punkte, die der Spielende neben der richtigen Antwort lag. Wenn 30 Punkte erreicht waren, kam die Figur oben an und fiel herunter. Gameboy erreichte aber nur 29 Fehlerpunkte.
Es sah zuerst so aus, als wenn die Gruppe von Gameboy gewinnen würde, doch am Ende gewann die Gruppe von Rafa wegen einer mit hoher Punktzahl bewerteten Antwort.
Vor dem nächsten Wettbewerb versorgten Rafa und Darienne sich in der angrenzenden Gaststätte mit Essen. Das sah so aus, daß Rafa durch den Mittelgang zu der Nische schritt, wo er seine Rechner aufgebaut hatte, und Darienne schritt mit Teller und Besteck hinterher.
Die übrigen Gäste aßen nach und nach auch etwas, das sie sich in der Gaststätte holten. Ich versuchte die hauseigene Currywurst und war zufrieden.
Gameboy lud das Programm "SAM Speech Synthesis", mit dem Tron und ich bei der letzten "Salix" den C64 zum Sprechen brachten. Gameboy und ich übten uns darin, die Texte, die der englischsprachige "Sam" sagen mußte, so zu buchstabieren, daß er deutsche Texte einigermaßen deutsch aussprach.
Darienne saß im Mittelgang an dem Spiel, das sie vorhin schon gespielt hatte, und nach einer Weile saß sie nur noch auf ihrem Stuhl, ohne zu spielen, mit angezogenen Beinen und auf die Sitzfläche gestellten Füßen, eine Zigarette nach der anderen rauchend.
Der nächste Wettbewerb hieß "Der Preis ist heiß". Dabei mußten die ursprünglichen Ladenpreise von historischer Computerhard- und -software erraten werden. Fast alle Gäste der "Salix" machten mit. In mehreren Gruppen wurden die Spieler nach vorne gerufen. In der dritten Gruppe rief Marius zuerst ein Mädchen namens Carlissa nach vorn, die zu den wenigen weiblichen Gästen gehörte - es waren insgesamt etwa so viele Frauen da, wie man an einer Hand abzählen kann. Als Nächstes rief Marius Rafa nach vorn, der Carlissa kumpelhaft die Hand gab und sich links neben sie stellte. Als Nächstes rief Marius mich nach vorn. Ich ging davon aus, daß Rafa nicht wollte, daß ich ihm die Hand gab. Ich strahlte ihn nur an und stellte mich links neben ihn, nicht völlig ohne Tuchfühlung. Rafa wich zurück und war nun so in den Hintergrund geraten, daß die Zuschauer ihn kaum noch sehen konnten. Mit einem gemurmelten "... ich komm' mal hier hin, man sieht ja sonst gar nichts mehr ..." ging er hinter Carlissa vorbei und stellte sich rechts neben Carlissa, so daß sie zwischen uns stand. Ein vierter Spieler kam noch dazu. Darienne stand an dem Platz, wo Rafa und sie ihre Rechner aufgebaut hatten, und machte mit ihrer Digitalkamera ein Foto nach dem anderen.
Rafa gewann die Runde, kennt er doch die Ladenpreise für C64-Hard- und -software von früher, als er sie kaufte oder anstaunte. Er bekam einen Preis und durfte wieder auf seinen Platz gehen, um später an der Siegerrunde teilzunehmen. Darienne wurde aufgerufen und stellte sich links neben mich. Sie verhielt sich ruhig, fast statuenhaft ruhig. Rafa sprang auf und lief nach vorn. Er machte aus wenigen Metern Entfernung mit der Digitalkamera ein Foto nach dem anderen und hielt dabei immer auf Darienne, die neben mir stand.
Im Nachhinein erst kam mir der Gedanke, daß dies ja für Rafa die einzige Gelegenheit war, mich zu fotografieren, ohne nach einem Alibi ringen zu müssen.
Carlissa gewann die Runde. Ich begann, mich zu verabschieden. Allen, die ich kannte, hatte ich schon erzählt, daß ich zu "Stahlwerk" wollte und sonst noch länger geblieben wäre:
"Hier wird es immer lustiger, je später es wird, das war schon beim letzten Mal so."
Ich umarmte Marius und Zen und noch einige mehr, und zuletzt saß ich bei Gameboy vor dessen Rechner, an dem er gerade zwei Würfel programmierte. Sie mußten bei entsprechender Eingabe eine entsprechende Augenzahl zeigen.
Rafa saß, versteckt hinter seiner Sonnenbrille, neben Darienne in seiner Ecke.
Um Mitternacht hielt ich daheim ein Nachtmahl und fuhr dann weiter zu "Stahlwerk". Wie immer gefiel mir die Musik sehr, unter anderem liefen "Headhunter 2000 (suspicious mix)" von Front 242 und "Smack my bitch up" von Prodigy. Ary-Jana erzählte mir, daß sie sich gern mit Joujou aussprechen würde. Sie wage aber nicht, ins "Roundhouse" zu kommen. Ich versicherte, ein besserer Ort als das "Roundhouse" ließe sich für eine Aussprache kaum finden.

.
.